Der Schachsport ist durch die Causa Niemann ins Zentrum des Interesses gerückt. Noch ist der US-Amerikaner im Spiel.

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Hans Niemann siegt weiter und gibt sich wortkarg.

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Magnus Carlsen brachte die delikate Causa aufs Tapet.

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Hans Niemann spielt seit Donnerstag bei den US-Meisterschaften in St. Louis. Der 19-jährige Schachgroßmeister gewann in der ersten Runde und gab sich anschließend gewohnt wortkarg. Über allem schweben offene Fragen.

Frage: Hat Hans Niemann betrogen?

Antwort: Ja, das hat er. Der 19-jährige US-Großmeister hat Betrug im Alter von zwölf bzw. 16 Jahren in online ausgetragenen Partien gestanden. Laut eigener Aussage sei es in den Spielen nicht um Preisgeld gegangen. Chess.com, einer der weltweit größten Schachserver, widerspricht dieser Darstellung. In einem Untersuchungsbericht spricht die Plattform von mehr als 100 verdächtigen Begegnungen bis zum August 2020. In einigen dieser Partien sei es sehr wohl um Prämien gegangen, zudem hätte Niemann auch im Alter von 17 Jahren noch getrickst.

Frage: Wie kann man im Schachsport eigentlich betrügen?

Antwort: Nein, man stellt nicht die Figuren um, während der Gegner die Toilette aufsucht. Mithilfe eines gängigen Schachprogramms lässt sich auch ein Weltmeister problemlos bezwingen. Die Maschinen haben am Brett längst die Herrschaft übernommen. Von Angesicht zu Angesicht ist Betrug nur mit technischem Aufwand denkbar. Online muss man kein David Copperfield sein, um den Gegner hinters Licht zu führen.

Frage: Kann ich online den Schachweltmeister bezwingen?

Antwort: Ja, das können Sie. Nur wird es Ihnen keiner glauben. Sie sind ein Amateur. Sie laufen Usain Bolt nicht davon, Sie knocken Mike Tyson nicht aus, und Sie schlagen Magnus Carlsen nicht im Schach. Sollten Sie es doch schaffen, sind Sie ein Schmähtandler. Dafür braucht es keinen Beweis. Die Mathematik spricht gegen Sie, das reicht.

Frage: Wie lässt sich Betrug nachweisen?

Antwort: Chess.com analysiert, wie stark die ausgeführten Züge den Empfehlungen der Engine gleichen. Zudem wird die Performance mit dem bisher bekannten Stärkeprofil abgeglichen. Weiters wird der Zeitaufwand in Anbetracht der Schwierigkeit der Züge beobachtet. Letztlich wird mit einem Gremium aus Analytikern diskutiert.

Frage: Ist die Causa Niemann ein Einzelfall?

Antwort: Das glauben Sie wohl selbst nicht. In der Geschichte von Chess.com wurden hunderte Titelträger, dutzende Großmeister und vier Top-100-Spieler gesperrt. Niemann ist die Spitze des Eisbergs. Normalerweise wird Betrug auf Chess.com nicht publikgemacht. Der Überführte gelobt Besserung, und die Show geht nach einer Sperre weiter. Im Fall Niemann sah man sich gezwungen, reinen Tisch zu machen.

Frage: Warum konzentrieren sich jetzt alle auf Niemann?

Antwort: Weil der Weltmeister eine Lawine losgetreten hat. Carlsen hatte nach einer Niederlage gegen Niemann von Betrug gesprochen. Ansonsten wäre der Youngster nur Insidern ein Begriff geblieben. Ja, in der Szene wurde getuschelt. Niemann ist aufgrund seines respektlosen Auftretens vielen suspekt. Er kommt mitunter in Sandalen angetanzt – das kommt nicht so gut an.

Frage: Hat Niemann am Brett gegen Carlsen betrogen?

Antwort: Dafür gibt es keinen Hinweis. Großmeister, die die Partie analysiert haben, sehen nichts Verdächtiges. "Ich hatte den Eindruck, dass er nicht angespannt war, während er mich mit Schwarz auf eine Art und Weise ausspielte, wie es nur eine Handvoll Spieler schafft", hielt Carlsen fest. Viele Experten sehen das anders. Allgemeiner Tenor: Carlsen hatte nicht seinen besten Tag. Und voreingenommen war der Champion obendrein. Ob es andere Verdachtsfälle gegen Niemann am Brett gibt, soll eine Untersuchung des Weltverbands Fide klären.

Frage: Aber warum wird Niemanns Leistung am Brett angezweifelt?

Antwort: Weil Niemann der am schnellsten aufsteigende Spitzenspieler im klassischen Schach ist. Keine zwei Jahre benötigte der junge Mann aus San Francisco, um sich von einer Elo-Zahl von 2500 auf 2700 zu verbessern. Zum Vergleich: Carlsen hat für diesen Sprung mehr als drei Jahre benötigt. Dass Niemann die üblichen Erklärungen für seine Geniestreiche schuldig bleibt ("Schach spricht für sich selbst"), schmeckt nicht allen. In Kombination mit seiner Vorgeschichte ergibt sich eine schiefe Optik.

Frage: Also, wie gut ist dieser Niemann wirklich?

Antwort: Verdammt gut. Niemann kann zweifellos mehr als nur die Figuren aufstellen. Vor allem im Blitzschach – geringe Bedenkzeit! – macht er einen erstklassigen Eindruck. Unlängst bezwang er Blitzweltmeister Maxime Vachier-Lagrave. Und im Blitzschach, da sind sich die Experten einig, kann man die Kollegen am Brett nicht betrügen. (Philip Bauer, 6.10.2022)