Seine Ermordung sorgte nicht nur in Österreich für Schlagzeilen. Auch die "New York Times" berichtete darüber, was sich am 16. Dezember 1948 in der österreichischen Gesandtschaft in Santiago de Chile, rund 12.500 Kilometer entfernt von Wien, zugetragen hat: Der 53-jährige Hans Becker, Geschäftsträger Österreichs in Chile, war von einem aus der Ukraine stammenden Mann namens Leo Sikorskyj kaltblütig mit zwei Schüssen ermordet worden. Danach richtete sich der Täter selbst.

Titel der Zeitungsberichte über die Ermordung Beckers in österreichischen, chilenischen und US-amerikanischen Zeitungen.
Abb. aus dem besprochenen Buch

Insbesondere in Chile gab die auf den ersten Blick rätselhafte Tat Anlass für Spekulationen. Der Mord erinnerte zudem an einen spektakulären Kriminalfall, der sich knapp vierzig Jahre zuvor ebenfalls im deutschsprachigen Diplomatenmilieu der Hauptstadt des südamerikanisches Landes ereignet hatte. Damals war der Verwaltungsattaché Wilhelm Beckert bei einem Brand in der deutschen Botschaft ums Leben gekommen – zumindest glaubte man das, da sich an der Leiche dessen Ehering und Uhr fanden. Tatsächlich aber war Beckerts Tod nur vorgetäuscht: Der Diplomat selbst hatte das wahre Opfer ermordet und war mit gestohlenem Geld aus der von ihm angezündeten Botschaft geflüchtet.

Fragen über Fragen

Warum aber musste der Österreicher Hans Becker 1948 wie aus heiterem Himmel sterben? War die Tat aus privaten Motiven begangen worden? Oder hatte sie doch etwas mit Beckers außergewöhnlichem politischem Engagement in den Jahren davor zu tun? Und wer war eigentlich dieser Hans Sidonius Becker, dessen Name fast ein Dreivierteljahrhundert nach seinem Tod nur wenigen zeitgeschichtlich Interessierten ein Begriff sein dürfte?

Erhard Stackl, "Hans Becker O5. Widerstand gegen Hitler", € 28,– / 416 Seiten. Czernin-Verlag, Wien 2022
Foto: Czernin Verlag

All diese Fragen hat der langjährige STANDARD-Journalist und mehrfach ausgezeichnete Autor Erhard Stackl in einer famosen neuen Biografie beantwortet, die Hans Becker wieder zurückholt ins kollektive österreichische Gedächtnis, wo er nicht fehlen darf: Denn der umtriebige Ethnologe, Maler, Architekt, Freimaurer, Werbefachmann und Diplomat war der Gründer und einer der Protagonisten der Widerstandsgruppe O5, kämpfte unter ständiger Lebensgefahr gegen Hitlers Terrorregime und überlebte fast drei Jahre in Konzentrationslagern nur knapp.

Dass es trotz seiner Widerstandstätigkeit bislang nur eine Dissertation, aber kein Buch über Becker gab, ist angesichts seiner auch sonst filmreifen Lebensgeschichte umso erstaunlicher. Der vergessene und verdrängte Held des Widerstands galt als verwegener Abenteurer im Stil des frühen Hollywoodkinos und war bis dahin immer wieder nur knapp dem Tod entronnen – egal ob als halsbrecherischer Flugzeugpilot im Ersten Weltkrieg, in der "grünen Hölle" Paraguays oder in den KZs von Dachau und Mauthausen.

Hansdampf in vielen Gassen

Doch alles der Reihe nach – und in gebotener Kürze: Hans Sidonius Becker wurde 1895 in eine adelige Familie geboren. Der Sohn eines Leiters der Marineakademie Fiume und k. k. Konteradmirals verbrachte Kindheit und Jugend in Pula, wo der vielfach Begabte auch maturierte. Danach begann er in Wien mit einem Jus-Studium und einer künstlerischen Ausbildung an der damaligen Kunstgewerbeschule für Malerei und Architektur, der heutigen Universität für angewandte Kunst.

Hans Becker im Ersten Weltkrieg.
Foto: Privatarchiv Franka Lechner

1914 packte den 19-Jährigen wie so viele andere auch die Kriegsbegeisterung, er meldete sich als Einjährig-Freiwilliger, wurde waghalsiger Aufklärungsflieger und brachte es bis zum Oberleutnant. Nach dem verlorenen Krieg war er zunächst Bankbeamter, ehe er von 1922 bis 1927 in Lateinamerika lebte und dort – immer wieder unter größter Gefahr – bis dahin nicht kontaktierten indigenen Völkern in Paraguay begegnete und darüber schrieb.

Zurück in Wien wechselte er fast jährlich seine Jobs, trat der progressiven Künstlervereinigung Hagenbund bei, der eine große Ausstellung im Leopold-Museum in Wien gewidmet ist, und heiratete 1929 auch seine erste Frau, die Tänzerin Annie Lieser, die aus einer gutbürgerlichen jüdischen Familie stammte. Im selben Jahr trat er den Freimaurern bei; politisch galt er als liberaler Konservativer.

Propaganda für die Vaterländische Front

Beides hinderte ihn nicht daran, im Austrofaschismus als Leiter der Propagandaabteilung der Vaterländischen Front anzuheuern – und "Bruder" bei den Freimaurern zu bleiben. So widersprüchlich vieles im Leben dieses Tausendsassas war: Seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus blieb er stets treu, was er nach dem "Anschluss" gleich einmal damit büßte, am 1. April 1938 im ersten "Prominententransport" nach Dachau verschleppt zu werden.

"Das Schwarze Corps" der SS hat Hans Becker (rechts unten) auf seiner "Fahndungsliste".
Foto: Abb. aus dem besprochenen Band

Wie grauenhaft es dort und danach im KZ Mauthausen zuging, schildert Stackl auch auf Basis der Aufzeichnungen Beckers in aller Anschaulichkeit. Das ist eine der vielen Stärken der nicht nur aufwendig recherchierten, sondern auch exzellent geschriebenen Biografie: dass sie mit einer Vielzahl an Quellen all die verschiedenen Kontexte von Beckers Leben detailreich ausleuchtet und die Lesenden unaufdringlich mit vielen neuen Fakten und wenig bekannten Zusammenhängen versorgt.

Aktivitäten des Widerstands

Das gilt ganz besonders für die verworrene Geschichte des österreichischen Widerstands, für den Becker nach seiner Entlassung Ende 1940 eine Schlüsselrolle spielt: Neben und nach seinem 1941 abgeschlossenen Völkerkundestudium und seinen wissenschaftlichen Arbeiten, die zuletzt vom Ethnologen und Becker-Experten Christian Feest analysiert wurden, beginnt er – von den Nazis lange unbemerkt – die Regimegegner mitzuorganisieren: Becker gründet die heterogen zusammengesetzte Widerstandsgruppe O5, in deren Code 5 für den fünften Buchstaben im Alphabet steht – und OE für OESTERREICH.

Der Widerstandscode O5 neben dem Eingang zum Stephansdom.
Foto: Erhard Stackl

Stackl gibt einen differenzierten Überblick über den Widerstand insgesamt, zu dem Kommunistinnen und Partisanen in Österreich den größten Teil beigetragen haben. Er rekonstruiert aber auch im Detail die Gruppe um Becker und seine Mithelfenden, von denen einige – wie Fritz Molden – besser bekannt sind, andere aber – wie die portugiesische Prinzessin Bragança (Deckname "Mafalda") oder Jörg Unterreiner, der Schöpfer des O5-Logos – weitgehend vergessen.

Hans Becker fliegt spät, aber doch auf, wird knapp vor Kriegsende abermals ins KZ Mauthausen gebracht und überlebt nur knapp. Da bleiben dem 50-Jährigen nur mehr gut drei Jahre: Nach dem Krieg versucht er erfolglos in der ÖVP Karriere zu machen, wird stattdessen Gesandter und geht mit seiner zweiten Frau, der Ethnologin Etta Becker-Donner, nach Südamerika, wo sein Leben am 16. Dezember 1948 gewaltsam endet. Auch bei der Rekonstruktion dieses Kriminalfalls wartete der Lateinamerika-Experte Stackl mit neuen Fakten auf.

Erinnerungskultur des Widerstands

Dass der Held seiner Biografie in machen Passagen womöglich ein klein wenig zu "gut" wegkommt und Beckers widersprüchlicher, getriebener Charakter psychologisch etwas dunkel bleibt, gehört zu den wenigen kleinen Schwächen dieses großartigen Buchs. Es wäre dem Werk sehr zu wünschen, dass es zur weiteren Beschäftigung mit dem österreichischen Widerstand anregt, der trotz der verdienstvollen Arbeit des ihm gewidmeten Dokumentationsarchivs fast so etwas wie ein blinder Fleck in der offiziellen heimischen Erinnerungskultur ist – jedenfalls verglichen mit Deutschland, wo die "Weiße Rose", die "Rote Kapelle" oder die Attentäter vom 20. Juli 1944 in der Öffentlichkeit sehr viel präsenter sind.

Entsprechend gibt es in Österreich weder eine Straße, die nach Hans Becker benannt ist, noch eine Gedenktafel, die an ihn erinnern würde. Erhard Stackl hat ihm ein erstes, mehr als nur würdiges Denkmal in Buchform gesetzt. Möge es nicht das einzige für diesen aus der Vergessenheit geholten Helden des Widerstands bleiben. (Klaus Taschwer, 7.10.2022)