In ganz Europa brennt der Hut, wirtschaftlich, politisch, wegen der zunehmenden sozialen Probleme vor allem auch gesellschaftspolitisch. Und die Krise, die vor Beginn der Kälteperiode Millionen Menschen auf dem Kontinent existenziell verunsichert, betrifft nicht nur die Europäische Union mit ihren 27 Mitgliedsländern. Sie hat praktisch alle europäischen Staaten erfasst, innerhalb und außerhalb der EU.

In ganz Europa brennt der Hut, wirtschaftlich, politisch, wegen der zunehmenden sozialen Probleme vor allem auch gesellschaftspolitisch.
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Das war die wohl wichtigste greifbare Wahrnehmung, die die 44 Staats- und Regierungschefs bei ihrem Treffen zur Gründung der neuen "Europäischen Politischen Gemeinschaft" haben konnten. So verschieden ihre Herkunft, ihre Geschichte und Ziele, das Verhältnis ihrer Länder zu Russland und Präsident Wladimir Putin sein mögen: Der Krieg in der Ukraine und die Eskalation durch die Annexion eines großen Teils des Landes durch Russland haben die Perspektiven auf dem Kontinent vollkommen verändert. Wahrscheinlich auf Jahrzehnte hinaus.

Seit Putins völkerrechtlich unakzeptabler Landnahme gilt nicht mehr das Generalmotto, an das man sich seit dem Ende des Kalten Krieges gewöhnt hatte. Es sah vor, dass "das gemeinsame Haus Europa" mit Russland zu einem friedlichen und demokratischen Gebilde aufgebaut wird, wie der frühere deutsche Kanzler Helmut Kohl gerne sagte; und dass die Europäische Union der zentrale Kern dieses Einigungswerkes ist, dem alle demokratisch gesinnten Länder beitreten können, wenn sie wollen.

Geplatzte Illusion

Diese Illusion, die Vision von irgendwann friedlich geschaffenen "Vereinigten Staaten von Europa", die mit ihren Nachbarn – vor allem mit Russland – eng verbunden sind, ist durch Putins Aggressionspolitik wie eine Seifenblase geplatzt. Ab sofort wird an Europa nicht mehr mit Russland gebaut, sondern ohne Russland. Manche europäischen Regierungschefs, insbesondere in Osteuropa, sprechen davon, dass man nun an einem gemeinsamen Europa gegen Russland arbeiten müsse.

Eine Antwort darauf ist nicht leicht zu geben. Sie hängt nicht zuletzt davon ab, wie dieser Eroberungskrieg weitergeht, ob Putin tatsächlich immer weiter eskalieren lässt oder ob es zumindest zu einem Stillstand der Kampfhandlungen kommt – und die Staatengemeinschaft dann über politische Lösungen verhandeln könnte. Niemand kann darauf heute eine Antwort geben. Unter den EU-Regierungschefs findet sich niemand, der von einem baldigen Ende des Krieges in der Ukraine ausgeht. Im Gegenteil, man stellt sich auf einen langen "eingefrorenen Konflikt" ein.

Russland gewinnt nicht, verliert aber auch nicht. Gleiches gilt für die Ukraine. Nicht umsonst hat der Hohe Beauftragte für EU-Außen- und -Sicherheitspolitik, Josep Borrell, in Prag davon gesprochen, das neue politische Format sei "eine Möglichkeit, nach einer neuen Ordnung ohne Russland zu suchen. Das bedeutet nicht, dass wir Russland für immer ausschließen wollen, aber dieses Russland, das Russland von Putin, hat keinen Platz."

Das heißt: Europa muss seine Wirtschaft, seine Energieversorgung, seine Sicherheits- und Verteidigungspolitik rasch und umfangreich umbauen, im Wissen, dass Moskau alles unternimmt, um das zu unterlaufen, um Europa zu spalten.

Die Zeiten der alten Gewissheiten sind vorbei, was dazu führt, dass EU-Staaten und überzeugte Nicht-EU-Staaten wie Großbritannien enger zusammenarbeiten wollen als je zuvor. In einer Notaktion gegen Putin. (Thomas Mayer, 6.10.2022)