Gugic spricht sich für einen Feminismus aus, der mehr will als weiße Frauen in sogenannten Spitzenpositionen.

Foto: Dirk Skiba

Ich beginne einen Text, den ich bereits unzählige Male geschrieben habe, gefühlt zu oft habe ich diese Themenfelder beackert und weitergeführt in Gesprächen, Diskussionen, Konferenzen, im Versuch und Scheitern, Wiederaufstehen, Anlaufnehmen und im neuen Versuch eines Dialogs. Es braucht Renitenz und Resilienz, sich zu wiederholen. Und Optimismus. Und Zorn. Also, wo fange ich an? Ich denke, alles beginnt mit den Geschichten, die wir erzählen.

In den Geschichten, mit denen ich aufgewachsen bin, waren die Helden selten Held*innen. Es brauchte eine Weile, bis mir auffiel, dass ich als Mädchen keine tragende Rolle spielen sollte in einer Welt, die vor allem Männern, weißen Männern, zu gehören schien. Lange bevor ich dies hätte in Gedanken oder Worte fassen können, war da ein Unbehagen, das Gefühl einer Schieflage. Wie die Welt mich und meinen Körper ansah, hatte nichts zu tun mit dem, wer ich war oder sein wollte. (...)

Mein heranwachsender Körper wurde betrachtet, beurteilt, er sollte bedeckt werden, weiblicher werden, schön sein, gefallen, mit jedem Tag der Pubertät schien meine Freiheit weiter zu schrumpfen. Ich sollte lernen, mich selbst konstant zu beobachten, zu beurteilen – war ich genug? Und dabei auch nicht zu viel, zu laut? Ich sollte Objekt werden.

Dieses passive Frausein war etwas, das von außen an mich herangetragen, mir übergestülpt wurde. Mit allem, was an Normvorstellungen davon dazugehört. Der Raum, den sich Männer wie selbstverständlich nehmen durften, wurde mir nicht zugestanden. Ich hatte zu gefallen, aber meine Lust sollte nicht mir gehören, sie wurde mit Scham behaftet. Da war dieser scheinbar unzulängliche Körper, der versehrt bleiben musste und in ständiger Gefahr war, missbraucht, vergewaltigt, zerstört zu werden.

Das wollte ich nicht so hinnehmen. Ich machte mich auf die Suche nach Antworten bei meinen Vertrauten, den Büchern, aber wusste noch nicht, wonach ich suchen sollte. Von Feminismus hatte ich noch keine Ahnung. Es würde Kompliz*innen brauchen, über diese Bücher hinaus.

Widerständige Musen

Warum gehe ich von meiner Geschichte aus? Vielleicht, weil sie ebenso individuell wie austauschbar ist. Die Wiederholung und Variante einer Geschichte der Unterdrückung, wobei das Geschlecht die erste Unterdrückungskategorie ist. Vor Herkunft, Bildung und sozioökonomischer Zugehörigkeit. Diese Geschichte ist eine Geschichte des Zorns, die geprägt ist von alltäglichen Demütigungen, Belästigungen, Zurechtweisungen, Schieflagen in Beziehungskonstruktionen, gelernten Machtverhältnissen und gläsernen Decken. Schamhaften Erkenntnissen, Etappensiegen und Rückschritten.

Ein unverhofftes Zeitfenster lässt mich vor ein paar Monaten die Ausstellung Widerständige Musen entdecken, über das gleichnamige feministische Kollektiv "Les Insoumuses" der Aktivistin und Schauspielerin Delphine Seyrig. Sie sagte 1972 in einer Diskussionsrunde zum Thema Abtreibung in der französischen Sendung Actuel 2, dass das Aufziehen eines Kindes traumatischer sei als eine Abtreibung. Damals durfte sie nur aus einem winzigen Bildschirm heraus sprechen, in das Fernsehstudio hinein, zu einer geschlossenen Front aus alten weißen Männern, die über die Rechte von Frauen diskutierten, unter ihnen zwei Alibifrauen, die ganz eindeutig nicht auf der Seite betroffener Frauen standen. (...)

Aber ist denn seither nicht alles besser geworden?

Who cares?

Heute finden wir uns wieder in einer Zeit des misogynen Backlash, die Aufhebung von Roe vs. Wade in den USA lässt die dystopischen Visionen aus Margret Atwoods Roman Handmaid’s Tale, der schon 1985 erschienen ist, Realität werden. Es geht um das Recht der Selbstbestimmung über den eigenen Körper, das nicht allein Frauen betrifft. Ein Mensch, der nicht über den eigenen Körper bestimmen kann, hat keine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben oder eine ebensolche Zukunft. Aber das ist nicht alles. Auf die Solidaritätswellen von #MeToo folgen nun Hass- und Hetzkampagnen, mit denen einzelne Frauen wieder in die Haltung des Schweigens und Duldens verwiesen werden sollen.

An diesen Einzelnen werden Exempel statuiert, die alle Frauen und darüber hinaus auch alle Marginalisierten einschüchtern sollen. Dazu kommen die Pick-me-Inszenierungen jener Aufsteigerinnen, die sich darin sonnen, in den patriarchal geprägten Strukturen durch größtmögliche Anpassung zu bestehen. Pick me, wähl mich, sieh mich an, ich bin die Klügere, Toughere, die sich niemals beschwert, sondern anpackt und den Abgehängten ein zynisches "Who cares!" hinwirft.

Josephine Apraku, Afrikawissenschafterin, sagte kürzlich in einem Interview: "Wenn privilegierte weiße Frauen ausschließlich für ihre eigenen Interessen einstehen, dann ist es nichts anderes, als innerhalb eines rassistischen Systems die gleiche Stellung wie ein weißer Mann haben zu wollen. Das bedeutet, dass damit Rassismus reproduziert wird."

Das Binäre

Was ist stattdessen mit der Idee einer feministischen, offenen Gesellschaft, die ihre Verletzlichsten in ihrer Mitte hält? Und mit einem "We care" in einem solidarischen Netz auffängt? Ein Feminismus also, der mehr will als weiße Frauen in sogenannten Spitzenpositionen, sondern Geschlechtergerechtigkeit, muss als notwendigen Schritt die Binarität aufbrechen, die Normvorstellungen des Entweder-oder. Ein Feminismus, der alle seine Sisters mitdenkt, was bedeutet: kein "Frauen only", kein "Hetero only", kein "Aufsteiger*innen only" und kein "weiße Menschen only". Ein Feminismus, der alle Marginalisierten, Rassifizierten, selbstverständlich queere Menschen, nichtbinäre und trans-Menschen mit einschließt.

Das beginnt auch bei der Sprache. Wenn von geschlechtergerechter oder gendergerechter Sprache die Rede ist, weist das auf das Binäre – das Weibliche und Männliche – hin. Feminismus sollte eine Gleichheit fördern, die alle Identitäten mitdenkt. Deshalb braucht es identitätsgerechte Sprache, die alle anspricht und deren Bedürfnisse sichtbar macht. Das mag nach viel verlangt oder utopisch klingen, aber es ist möglich, es wird nicht gehen ohne Perspektivwechsel, es braucht diese Form von radikaler Solidarität.

Gerade die Literatur ist geschaffen für das Erfahrbarmachen von Identitäten und Lebenspositionen. Auch wenn der Literaturbetrieb nach wie vor von patriarchalen Strukturen und männlich dominierten Erfahrungsräumen geprägt wird und die wenigsten Autor*innen unter gleichen Bedingungen leben und arbeiten. Rassismus und Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Bildung oder sozioökonomischer Zugehörigkeit betreffen Autor*innen in sehr unterschiedlichem Maße. Dass es strukturelle Ungleichbehandlungen im Betrieb gibt und die Texte marginalisierter Schreibender es mitunter schwerer haben, einen Verlag und damit eine Leser*innenschaft zu finden, ist kein Geheimnis.

Wer welchen Raum bekommt

Welche Autor*innen lesen wir, welche besprechen wir? Was ist Schullektüre, Kanon, was wird verlegt, was im Feuilleton besprochen? (...) Wer bekommt welchen Raum zugesprochen? Wer entscheidet darüber? Es geht um das Gesehenwerden, die Teilhabe, die Stimmen, die fehlen, das Gehörtwerden. Wir sind verantwortlich dafür, vor allem die Mehrheitsgesellschaft ist verantwortlich dafür, dass alle sichtbar und hörbar werden. Solidarität kann für Privilegierte bedeuten, Platz zu machen, einen Raum zu schaffen, in dem andere gehört werden können. Die eigenen Themen zurückzustellen, zuzuhören.

Die erste queere und darüber hinaus unsterbliche Figur, die mir in der Literatur begegnet ist, war Orlando in Virginia Woolfs Roman Orlando – eine Biographie. Woolf erzählt die Geschichte von Orlando vom 16. Jahrhundert bis zum Jahr 1928, das auch das Erscheinungsjahr des Romans ist – die Handlung spannt sich über 300 Jahre, in denen die Figur Orlando jedoch nur ungefähr 36 Jahre alt wird und vor allem: das Geschlecht von Mann zu Frau wechselt. Einfach so. Dieser Wechsel verändert weder das Wesen noch den Charakter von Orlando – denn, warum sollte es auch? Woolf räsoniert über die Frage der Identität als "Ichschichten, aus denen wir uns zusammensetzen". (...)

Renitenz und Resilienz

Lann Hornscheidt schreibt im Essay Gender: "Die Idee der sozialen Rolle, die Geschlecht heißt, ist das Problem, ist die Gewalt, ist die Diskriminierung. Verunmöglicht mich. Was also, wenn der Rahmen das Problem darstellt, die Notwendigkeit mitzuspielen, in diesem Theater, die Gewalt, die Zurichtung, Zuschreibung, Zumutung? Was dann? Nur weil ich keine anderen Rollen kenne, heißt es nicht, dass es sie nicht gibt. Nur weil ich glaube, die Bühne sind die Bretter der Welt, heißt es nicht, dass keine andere Welt möglich wäre."

Hornscheidt beschreibt Gender/Geschlecht als soziale Übereinkünfte und soziale Zuschreibungen und stellt Überlegungen an, was passieren könnte, wenn wir diese uns zugewiesenen Rollen überdenken und infrage stellen. (...) Bei diesen Überlegungen geht es um ein Sichfreimachen von gesellschaftlichen Normen und Prägungen. Veränderung hat auch einen Aspekt, der Angst machen kann. (...) Wir können nicht davon ausgehen, dass unsere Lebenswirklichkeit für alle gilt, für ein Wir. Aber wir sollten uns das Recht nehmen, die Einzigen zu sein, die definieren, wer wir sind. Auf jeden Fall: Hier ist nichts zu verlieren, niemandem wird sein "Frausein" oder "Mannsein" weggenommen, aber die Begriffe, die wir als "normal" empfinden, weil wir uns an sie gewöhnt haben, dürfen und müssen hinterfragt und erweitert werden. Es geht darum, größere Freiheit zu erlangen, für alle.

Siri Hustvedt schreibt in ihrem Essay Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen von 2016: "A work of art has no sex." Ein Kunstwerk hat kein Geschlecht. Und weiter sagt sie, auch das Geschlecht von Künstler*innen bestimme nicht das Geschlecht des Kunstwerks, es könne verschiedenste Versionen jeglichen Geschlechts haben.

Erzeugt die zeitgenössische Literatur neue Welten, oder reproduziert sie vor allem narrative Normen? Es gilt, an der Sprache anzusetzen, die Sprache des Alltags aufzubrechen, die Sprache, die wir in unseren Texten verwenden, bewusst einzusetzen. Hinterfragen wir die Geschichten, die wir erzählen und die Figuren, deren Geschlechter, unsere Themen und Motive. Die vorhandene Sprache können wir durchleuchten, dabei Denkstrukturen aufbrechen und auch die vorhandene Welt in ihre Bestandteile zerbrechen und neu puzzeln. Es braucht Renitenz und Resilienz, Optimismus und Zorn.

Alles beginnt und endet mit den Geschichten, die wir erzählen. (Sandra Gugić,, 8.10.2022)