Bei der kommenden Bundespräsidentschaftswahl dürfen 20 Prozent der Bevölkerung nicht mitbestimmen.

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Bei fast allen Wahlen in Österreich dürfen nur Staatsbürgerinnen und Staatsbürger wählen. Das schließt jede fünfte in Österreich lebende Person von politischer Mitbestimmung aus. Bei der "Pass egal"-Wahl war das anders: Hier durften auch nichtwahlberechtigte Personen ihre Stimme für die kommende Bundespräsidentschaftswahl abgeben. Die rege Beteiligung an dieser Abstimmung zeigt: Politisches Interesse an einer Erweiterung des Wahlrechts ist durchaus vorhanden.

Amtsinhaber Alexander Van der Bellen geht mit rund drei Viertel der Stimmen als klarer Sieger der am vergangenen Dienstag stattgefundenen Wahl hervor. Bei der symbolischen Aktion von SOS Mitmensch haben mehr als 8.500 Menschen teilgenommen und ihre Stimme abgegeben: für den Bundespräsidenten – und im weiteren Sinne für eine Ausweitung des Wahlrechts für alle Menschen in Österreich. Es brauche ein Umdenken der Politik, um alle hier lebenden Menschen mit einzuschließen, sagt SOS-Mitmensch-Sprecher Alexander Pollak, sonst stehe "die demokratische Legitimität auf dem Spiel".

40 Prozent der Wiener Jugend darf nicht wählen

Während österreichweit rund 20 Prozent der Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, sind es in Wien je nach Altersgruppe 30 bis 40 Prozent. Besonders auffällig ist das Wählerinnendefizit bei der Wiener Jugend. Dieses Jahr haben erstmalig 50 Schulen an der "Pass egal"-Wahl teilgenommen – und damit mehr als 4.500 Schüler und Schülerinnen.

Viele der Jugendlichen, die sonst nicht mitbestimmen dürfen, sind in Österreich geboren. Gerlinde Affenzeller, Geschäftsführerin von SOS Mitmensch, sieht Schulen vom Wahlausschluss besonders betroffen. Für viele Schülerinnen stelle sich die Frage, warum sie sich für Demokratie interessieren sollten, wenn sie ohnedies nicht mitmachen dürften, sagt Affenzeller.

Politische Debatte wieder entfacht

Angesichts der bevorstehenden Bundespräsidentschaftswahl ist die Debatte um das Wahlrecht auch politisch wieder präsent. In einer Medienaktion vor der Hofburg fordern Rihab Toumi, Vorsitzende der Sozialistischen Jugend (SJ) Wien, und Paul Stich, Vorsitzender der SJ Österreich, neue Maßnahmen. Einerseits brauche es eine Ausweitung des Wahlrechts auf alle Personen, die seit drei Jahren dauerhaft in Österreich leben.

Andererseits fordern sie Reformen im Staatsbürgerschaftsrecht. Die Forderungen beziehen sich auf die Voraussetzungen für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft: Die Einkommensgrenzen seien zu hoch und die benötigte Aufenthaltsdauer zu lang. Außerdem kritisieren sie das in Österreich geltende Abstammungsprinzip (ius sanguini), nach dem die Staatsangehörigkeit der Eltern quasi "vererbt" wird. Es brauche für jedes in Österreich geborene Kind einen Rechtsanspruch auf die Staatsbürgerschaft, wie es zum Beispiel in Deutschland der Fall ist (ius soli).

Kriterien zur Staatsbürgerschaft im Überblick

Um die österreichische Staatsbürgerschaft erwerben zu können, muss man einen zehnjährigen ununterbrochenen Aufenthalt in Österreich nachweisen können sowie einen "gesicherten Lebensunterhalt durch monatliche Einkünfte". Diese liegen bei Alleinstehenden bei 1030,49 Euro pro Monat, welche nach Abzug der regelmäßigen Kosten, zum Beispiel der Miete, zur Verfügung stehen sollen. Für jedes Kind erhöht sich der Betrag um zusätzlich 159 Euro. Nachweise über den Erhalt von diversen Sozialleistungen sind nicht geeignet.

Außerdem muss der Antragsteller oder die Antragstellerin über eine Krankenversicherung sowie eine Unterkunft verfügen, die durch einen Anspruch, z. B. einen Mietvertrag, gesichert ist. Es müssen ausreichende Deutschkenntnisse (Niveau B1) nachgewiesen und eine Prüfung zur österreichischen Geschichte und Kultur abgelegt werden.

Negative Auswirkungen auf Repräsentation

Aktuell sind keine rechtlichen Änderungen geplant, die Regierung verteidigt den Status quo. Laut ÖVP sei die Staatsbürgerschaft ein "hohes Gut", das sich Zugewanderte erst verdienen müssten. Die Grünen teilen die Kritik am Staatsbürgerschaftsrecht zwar grundsätzlich, sind als kleiner Koalitionspartner aber auf Verhandlungen mit der ÖVP angewiesen.

Parteipolitisch sind die Linien in der Debatte bereits bekannt. Die Sozialdemokratie betont das Wählerinnendefizit bei den Arbeitern und Arbeiterinnen, rund 60 Prozent der Wiener Arbeiterschaft seien vom Demokratieprozess ausgeschlossen. Die Leute, die politische Maßnahmen am dringendsten bräuchten, könnten nicht mitbestimmen, sagt Stich.

Durch die Nichtreformierung des Staatsbürgerschaftsrechts schrumpft die österreichische Wählerschaft, und das nicht proportional. Die ältere und ländliche Bevölkerung würde einen Überhang bekommen, sagte Integrationsforscher Bernhard Perchinig im Frühjahr im STANDARD-Interview. Dadurch würde die Bevölkerung nicht mehr vollständig repräsentiert werden. Fachleute sehen in der Ausweitung des Staatsbürgerschaftsrechts Möglichkeiten, um politische Partizipation zu steigern. Das fehlende Wahlrecht wirke sich negativ auf die Integration aus und senke die Legitimität der österreichischen Politik, so die Argumentation. (Alara Yilmaz, 7.10.2022)