Im Tod, sagte Seneca, sind alle Menschen gleich. Im Leben gibt es nur wenige Orte, an denen soziale Unterschiede in den Hintergrund treten. Das Schwimmbad, so hört man immer wieder, sei so ein Ort. Schon einige Minuten an der Kassa scheinen die Theorie vom Bad als sozialem Melting Pot zu belegen: Auf den über 80-jährigen Herrn folgt ein Student mit Skateboard, der sich seine ermäßigte "Bäderlegitimationskarte" abholt. Als Nächstes in der Schlange: ein Vater mit seinem Sohn, eine Mutter, die ihre Töchter zum Schwimmunterricht bringt, eine ältere Dame und dann ein weiterer Vater, der – diesmal auf Russisch – Eintrittskarten für sich und seine Kinder kauft.

Barbara kennt ihn bereits, wie die meisten der Gäste. "Die Leute bleiben ihrem Bad treu", sagt sie, die als gebürtige Polin auch Russisch spricht. Schon mehr als 20 Jahre arbeitet sie bei den Wiener Bädern, seit einigen Jahren an der Kassa des Amalienbads. Der Schimmbadbesuch beginnt mit ihrem herzlichen Lachen und einem der farbigen Bändchen, die in Kästchen auf ihrem Schreibtisch liegen. Rot für Frauen, die in die Schwimmhalle wollen, Blau für Männer. "Die hier für Herren, die in die Sauna gehen, Grau, wenn sie Kästchen und Kabine wollen – ein ausgeklügeltes Farbsystem.

Barbara kennt die meisten der Gäste.
Foto: Regine Hendrich

Das 1926 eröffnete Amalienbad gehört zu den ältesten der Stadt. Es wurde im Rahmen des städtischen Bäderprogramms errichtet, das der Wiener Gemeinderat einige Jahre zuvor beschlossen hatte. Das Rote Wien setzte auf präventive Gesundheitspolitik. Nur wenige Haushalte verfügten damals über eigene Waschräume, dementsprechend schlecht war es um die Körperhygiene bestellt. Doch beim Bäderbau ging es nicht nur um Krankheitsprävention und körperliche Fitness: Der Badespaß sollte kein Privileg der Reichen mehr sein.

Weshalb man das Amalienbad, die damals "größte und modernste Badeanstalt Mitteleuropas", wie die Arbeiter-Zeitung schrieb, auch mitten in den "Proletarierbezirk" Favoriten baute. Weitere Bäder folgten, Wien wurde zur vielgelobten "Bäderstadt". 38 Stück gibt es heute – verteilt über die ganze Stadt. Soziale Orte sollen es sein, heißt es in der "Bäderstrategie 2030" – Orte, "an denen sich alle wohlfühlen".

Das Amalienbad galt bei der Eröffnung 1926 als "modernste und größte Badeanstalt Mitteleuropas".
Foto: Regine Hendrich

Die ersten Züge

Wer in die prunkvolle Schwimmhalle des Amalienbads will – ein Schmuckstück im Art-déco-Stil –, muss an Vladan vorbei: Er scannt die bunten Bändchen, die Barbara an der Kassa ausgegeben hat. Vladan liebt die Arbeit bei den Wiener Bädern: super Atmosphäre, freundliche Gäste, nette Mitarbeiter. "Kollege, komm mal her!" Fitim, der herbeigerufene Kollege, stimmt zu: Der Kontakt mit den Menschen – alle Altersklassen, alle Nationalitäten – sei es, was den Job ausmache.

Jetzt, am späten Nachmittag, ist Familienzeit: Selma ist mit Freundinnen und Kindern ins Bad gekommen. Während die Eltern am Beckenrand plaudern, planschen die Kinder im flachen Becken. Auch Sandor ist mit seinen Kindern hier. Die Zeit des Schwimmkurses nutzt der Vater für sein eigenes Training: In der Schulzeit mussten sie immer vierzig 25-Meter-Bahnen schwimmen, erzählt er. "Ich habe es damals nie geschafft und will die 1.000 Meter jetzt endlich knacken." In erster Linie aber gehe es um den Badespaß mit der Familie: Beim Schwimmen könnten sie alle abschalten. "Die Kinder lieben es!"

Sandor kommt mit seinen Kindern. Er will endlich die 1.000-Meter-Marke schaffen.
Foto: Regine Hendrich

Zu den schönsten Momenten seines Jobs gehöre es, wenn ein Kind seine ersten Züge mache, sagt Zoran. Er arbeitet selbst als Schwimmlehrer und hat heute Aufsicht am Beckenrand. Die Auswirkungen der Pandemie seien deutlich spürbar: "Man merkt, dass viele Kinder nicht mehr schwimmen können." An die Zeit, als das öffentliche Leben stillstand und sämtliche Bäder geschlossen waren, erinnert er sich nur ungern. "Die Stille war schrecklich." Auch er verfolgt die Diskussion um steigende Energiekosten und die Frage, was das für seinen Arbeitsplatz bedeutet. Wenn die Bäder, so kurz nach Corona, erneut zusperren müssten. "Das wäre eine Katastrophe!"

Das Wasser bleibt warm

Eine Schließung ist derzeit nicht geplant. Doch, so heißt es vonseiten der Bäderverwaltung, man sei mit dem Fachstab für Energieeinsparungspotenziale in Kontakt. Neu ist das Thema nicht: Schon seit mehr als 20 Jahren setzt man auf Energie-Einspar-Contracting, um herauszufinden, an welchen Stellen Energie und Wasser eingespart werden können. Mit Erfolg: Im Vergleich zu 2003 konnten 2018 rund 60 Prozent Gas und Fernwärme eingespart werden. Eine generelle Absenkung der Wassertemperatur sei derzeit kein Thema, lässt die Bäderverwaltung wissen, da die möglichen Einsparungen "in keinen adäquaten Verhältnissen zu den Nachteilen für die Badegäste" stehen.

Man merke, dass viele Kinder nicht mehr schwimmen könnten, sagt Bademeister Zoran. Sollten die Bäder wegen steigender Energiekosten schließen, wäre das schlimm. F
Foto: Regine Hendrich

27 Grad hat das Wasser. Ein, zwei Grad weniger – wenn man angezogen in der Schwimmhalle sitzt, klingt das harmlos. Im nassen Zustand aber schaut die Sache schon anders aus. "Mir würd’s nichts ausmachen", meint Tobias, der nach dem Schwimmen auf den Stufen am Beckenrand verschnauft. Hauptsache, die Bäder bleiben offen. Er trägt eine dieser engen, knielangen Badehosen, wie man sie auf Wettkämpfen sieht. "Hab ich von meiner Omi bekommen", sagt er lachend. Eigentlich sei er ein totaler Anfänger. Der 25-Jährige hat erst vor ein paar Monaten mit den Schwimmen begonnen – "weil’s den Kreislauf in Schwung bringt" und gelenkschonender ist als das Skaten, das ihm schon so manche Blessur eingebracht hat.

Bade- über Unterhose

Dennoch, Unfälle gibt es auch im Schwimmbad: Eine Reanimation habe sie zum Glück noch nicht miterlebt, erzählt Martina und klopft – in Ermangelung eines Holztischs – auf die Steinfliesen der Schwimmhalle. Platzwunden und Prellungen aber, "das ist Normalität bei uns". Neben Ersthilfe gehe es in ihrem Job vor allem darum, Konflikte zu lösen. Manchmal sind es Schlägereien unter konkurrierenden Badegästen, häufiger Diskussionen um die unbeliebte Badeordnung. "Bei euch ist alles verboten!" Ein Satz, den die beiden häufig hören. Dabei sind die Regeln simpel: vor dem Baden duschen, keine Unterwäsche im Wasser. Eine Marotte, die er vor allem bei jungen Männern beobachte, erzählt Zoran: Bade- über Unterhose. "Die wollen ihre coolen Marken herzeigen. Dann muss ich ihnen erklären, dass das unhygienisch ist. Mit dem Duschen ist es dasselbe: Man kann ja nicht seinen Schweiß im Becken abwaschen."

Die Hygieneregeln wie Duschen vor dem Schwimmen, die müsse sie täglich erklären, sagt Bademeisterin Martina.
Foto: Regine Hendrich

Was ihm in diesen Momenten hilft? Freundlich bleiben und viele Nerven. Wenig später diskutiert Kollegin Martina mit einer Frau, die nicht begreifen will, warum sie nicht in Straßenkleidung in die Schwimmhalle darf. Kurz danach ein Mann, der ihr mit Händen und Füßen erklärt, dass sein Handtuch gestohlen wurde. Die kleinen und großen Dramen des Bademeisterinnenalltags.

Am entspanntesten sei es am Morgen, sagt Martina – die Zeit der Stammgäste und Sportschwimmer. "Da brauch ma nicht viel schauen." Am Nachmittag, wenn all die Kinder kommen, gebe es mehr zu tun: "Die überschätzen sich oft." Mittlerweile sind die meisten Familien gegangen. Es ist früher Abend, das letzte Tageslicht fällt durch das gewölbte Glasdach der Schwimmhalle, erneut übernehmen die flinken Schwimmer das Becken. Ausgestattet mit Badekappe und Brille gleiten sie durchs Wasser. Daneben ein paar Senioren, die gemächlich ihre Bahnen ziehen. Am Beckenrand turteln Pärchen im Wasser, auf den Stufen neben dem Eingang sitzt eine Gruppe Jungs und beobachtet das Treiben.

Sozialer Melting Pot

Stimmt sie also, die Geschichte vom Hallenbad als sozialem Melting Pot? "Sehen Sie selbst!", sagt Zoran und lässt den Blick durch die Halle schweifen. "Das Publikum ist bunt gemischt."

"Nur die ganz Reichen", wirft Martina ein, " die sieht man vielleicht nicht." Sie überlegt kurz, "wobei, in Hütteldorf kommen die auch". Den Schauspieler Max Schmiedl habe sie dort mal gesehen und Fußballer von Rapid Wien. Und in Hietzing, da sei immer die zweite Ehefrau vom Strache gekommen. "Und kennst du diesen Mann mit der Goldkette, der immer bei uns ist?" Drei Villen in Deutschland und zwei in Österreich habe der. "Das sieht man ja auch nicht", sagt Zoran. "Wie reich ist zum Beispiel dieser Herr, der da gerade schwimmt?"

Im Tod und in der Badehose sind alle gleich. (Verena Carola Mayer, 10.10.2022)