Viele Soldaten stehen mit ihrer Funktion nur auf dem Papier.
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Aus der Perspektive von Alfred Lugert ist das alles rausgeschmissenes Geld. Der erfahrene Sicherheitsforscher und Oberst fasste am Donnerstagnachmittag sein Urteil über die am Vormittag von Bundeskanzler, Finanzminister und Verteidigungsministerin mit großem Pomp verkündete Budgeterhöhung in den knappen Satz: "Gutes Geld für das falsche Wehrsystem ist nicht zielführend."

Ein verfassungswidriges Bundesheer

Lugert legt damit den Finger auf eine Wunde, die in der wehrpolitischen Diskussion seit Jahrzehnten offen ist, die aber bei der Betrachtung der Budgetengpässe meist in den Hintergrund gedrängt wurde. Kurz gesagt: Das Bundesheer, wie es heute dasteht, ist verfassungswidrig. Lugert wird nicht müde, auf den Artikel 79 Absatz 1 des Bundesverfassungsgesetzes zu verweisen, der besagt, dass das gesamte Bundesheer nach den Grundsätzen eines Milizsystems einzurichten ist.

Und dieses Milizsystem besteht allenfalls auf dem Papier. Wie es funktionieren könnte, wäre am Schweizer Modell abzulesen: Da werden Rekruten kurze Zeit in Rekrutenschulen ausgebildet, um dann in regelmäßigen Abständen zu Übungen einberufen zu werden, bei denen sie ihre Funktion im Einsatzfall trainieren. Geführt wird die gesamte Armee von Kadersoldaten, die ihrerseits auch nur Teilzeitsoldaten sind, weil sie außerhalb von Übungen und Einsätzen ebenfalls ihren zivilen Berufen nachgehen.

So war das auch für Österreich geplant, als in den 1970er-Jahren die damals sogenannte "Landwehr" aufgestellt wurde. Diese sollte im Kriegsfall – damals fürchtete das neutrale Österreich, in eine Blockkonfrontation zwischen Nato und Warschauer Pakt hineingezogen zu werden – die Masse des Heeres darstellen und auf bis zu 300.000 Mann anwachsen. Diese Milizsoldaten sollten in einer eigenen Struktur gegliedert sein und auch von Offizieren und Unteroffizieren aus dem Milizstand, die sich für eine längere militärische Ausbildung verpflichtet hatten, geführt werden.

Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) muss das Budget genau planen.
Foto: HBF/Gunter Pusch

Miliz ist mehr als Reserve

Daneben wurde eine relativ kleine (Planungsgröße: 15.000 Mann) Bereitschaftstruppe aus Berufssoldaten aufgebaut. Weder Landwehr noch Miliz erreichten je die angepeilte Stärke. Und als die Blockkonfrontation weggefallen ist, wurde die Einsatzstärke des Bundesheers willkürlich auf 55.000 Mann (inzwischen mit rund vier Prozent Frauenanteil) festgeschrieben. In der Folge aber wurden die Stimmen der Berufssoldaten gewichtiger. Denn jene, die für Bereitschaftstruppe und regionale Kommanden hauptberuflich Soldaten (und oft sogar verbeamtet) waren, standen einer schrumpfenden nebenberuflichen Truppe aus Milizsoldaten gegenüber. Den Berufssoldaten gelang es sogar, den Begriff der Miliz weitgehend umzudefinieren: Heute wird als "Miliz" bezeichnet, was anderswo richtigerweise "Reserve" heißt.

Puristen des Milizbegriffs bestehen allerdings darauf, dass mit Miliz eben mehr gemeint ist als die Reservisten einzelner Einheiten: Es gehe darum, dass die Miliz das "eigentliche" Bundesheer im Einsatz darstelle und dass die Milizeinheiten auch von Milizsoldaten geführt werden. Lugert argumentiert das dahingehend, dass ein effizientes Heer eben eines wäre, das in Friedenszeiten übt und im Fall von Aufbietung oder Mobilmachung selbstständig funktionsfähig sein muss.

Ab Ende der 1980er-Jahre geriet das nach und nach in Vergessenheit – derzeit stützt sich das Bundesheer vor allem auf präsente Kräfte und auf Soldaten, die sich freiwillig für Milizfunktionen melden und ausbilden lassen.

Das hatte massive Auswirkungen auf die Organisation und auf die Einsatzfähigkeit, wenn einmal größere Personalstände bereitgestellt werden müssten.

Denn seit unter Minister Günther Platter (ÖVP) 2006 die Wehrdienstzeit verkürzt wurde, gibt es für die einfachen Soldaten keine Übungspflicht mehr. Weil zudem ein großer Teil der Grundwehrdiener in den letzten Jahren zu Assistenzeinsätzen herangezogen worden ist, haben viele keine komplette Ausbildung für eine allfällige Einsatzfunktion.

16.200 "Papiersoldaten"

Die Offiziersgesellschaft, in der die Milizoffiziere die Mehrheit stellen, rechnet vor: "Die 20.900 präsenten Kräfte bekämen im Ernstfall 34.100 zusätzliche Kameraden aus der Miliz (beide Zahlen schwanken immer ein wenig). Das Bundesheer wird so 55.000 "Mann" – darunter 662 Frauen – stark. Die Sache ist nur: Etwa 16.200 von ihnen haben dann die Kampfverbände, denen sie zugewiesen sind, zum Zeitpunkt der Alarmierung noch nie gesehen, geschweige denn mit ihnen geübt." Es hänge vom Zufall ab, wer gerade einen Bereitstellungsschein hat.

Von "Papiersoldaten", die also nur auf dem Papier stehen, aber keinerlei Wert in einem Einsatz haben, schreibt das Magazin Der Offizier.

Das Thema war bei den Koalitionsverhandlungen offenbar im Hintergrund, als türkis-grüne Verhandler die "Wiederherstellung des verfassungsmäßigen Zustands des Österreichischen Bundesheers nach den Grundsätzen eines Milizsystems (Art. 79 (1) BVG)" beschlossen haben. Dass dafür – und für allfällige künftige Großeinsätze – verpflichtende Übungen nötig wären, blieb aber ausgespart. Daher wird jetzt in die Behebung materieller Mängel investiert, ohne den grundlegenden Systemfehler zu beheben. (Conrad Seidl, 7.10.2022)

Wieso Österreich neutral ist und warum das aktuell wieder zur Debatte steht.
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