Landesweit wird im Iran protestiert, hier etwa Ende September in Karaj nahe Teheran.

Foto: Imago / Zuma WIre / Social Media

Es ist nicht einfach dieser Tage, Menschen im Iran zu erreichen. Seit dem Tod der jungen Kurdin Mahsa Jina Amini, die nach einer Verhaftung durch die Sittenpolizei starb, ist vieles nicht mehr, wie es war. Drei Wochen lang wird bereits protestiert – gegen die Repressionen des Regimes, die sich vor allem gegen Frauen und Minderheiten richten. Der Mut zahlreicher Menschen im Iran, ihre Ablehnung auszudrücken, scheint größer zu sein als die Angst vor dem Regime. DER STANDARD hat mit Iranerinnen im In- und Ausland gesprochen, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben wollen.

***

26-Jährige aus Teheran: "Die Angst ist weg"

Es war ein tolles Gefühl, als ich endlich ohne Kopfbedeckung auf die Straße gegangen bin. Normalerweise trage ich zumindest einen Schal, der kaum meine Haare bedeckt. Aber nun möchte ich auch dazu nicht mehr gezwungen werden. Ich bin 26 Jahre alt und arbeite in einer Firma. Die Frauen dort haben sich nie an islamische Vorschriften gehalten. In der Familie und bei Festen trug kaum jemand eine Kopfbedeckung.

Aber es geht derzeit nicht nur um diese islamische Vorschrift. Wir müssen mit vielem aufräumen, womit wir in den letzten 40 Jahren konfrontiert wurden. Seit mehr als zwei Wochen herrscht in Teheran ein Chaos, wie ich es noch nie erlebt habe. Entweder demonstrieren die Menschen auf den Straßen, oder sie veranstalten mit ihren Autos Hupkonzerte.

Keiner beschwert sich, auch in der Nacht nicht, wenn aus geschlossenen, dunklen Wohnungen Parolen gerufen werden oder ein Lied zu hören ist, das inzwischen in aller Munde ist. Das Gesicht von Teheran hat sich mittlerweile total verändert. Egal, wo man hingeht, jeder spricht über die neue Situation und kritisiert offen die Zustände im Land. Die Angst ist weg, und es fällt auf, dass sich Menschen aller Landesteile miteinander solidarisieren. Der Name Mahsa Amini steht auf vielen Wänden, und als ich meine Tochter von der Schule abholen wollte, sah ich die zerrissenen Bilder der religiösen Führer Khomeini und Khamenei auf der Straße.

Video: Iran: Wie wehendes Haar zum Symbol des Widerstands wurde
DER STANDARD

Meine kleine Tochter fragte mich, ob sie demnächst ohne Kopftuch zur Schule gehen darf, und sie sagt, viele Schülerinnen haben in der Schule ihre Kopftücher zerrissen und weggeworfen. Am Abend waren wieder alle auf den Straßen, und die Demonstrationen dauern an. Wann wir aber tatsächlich wieder normal leben können, das steht in den Sternen.

***

35-Jährige aus Wien und Bandar Abbas: "Es hat sich aufgestaut"

Mit einem Studentenvisum bin ich 2015 nach Österreich gekommen. Ich hatte in Bandar Abbas gelebt, im Südiran. Dort war die Sittenpolizei nie so streng wie in anderen Städten. Aber in den letzten Jahren sind sie viel strenger und aggressiver geworden: Als ich 2018 im Iran war, haben sie sich schon aufgeregt, wenn der lange Mantel nicht ganz zugeknöpft war. Früher haben sie oft mündliche Warnungen ausgesprochen, zuletzt wurden Frauen immer öfter verhaftet und mussten dann warten, bis ein Familienmitglied ein "angemessenes Kleidungsstück" brachte.

Meine Geschwister leben in Bandar Abbas, meine Eltern sind in einem kleinen Dorf in der Provinz Chuzestan. Dort gab es schon vor den Protesten keine gute Internetverbindung. Seit die Demos angefangen haben, habe ich nur noch wenig Kontakt mit meiner Familie.

Viele überlegen in der Arbeit zu streiken, mein Bruder zum Beispiel. Eine Freundin hat mir erzählt, dass sie vergangene Woche bei den Protesten in Bandar Abbas dabei war. Dort sind die Demonstrationen nicht so groß wie in anderen Städten, aber es waren viele, vor allem junge Leute dort. Plötzlich tauchten überall Polizisten auf, die Taser dabeihatten und versuchten, Menschenmengen zu zerstreuen oder in Richtung der Polizeistation zu drängen. Meine Freundin ist dann schnell nach Hause gelaufen, weil sie Angst hatte, dass es gefährlich wird. Am nächsten Tag hat sie gelesen, dass eine Frau getötet wurde.

Ich war 2009 bei den Protesten dabei, viele andere Frauen auch! Frauen haben bei den Protesten schon immer eine wichtige Rolle gespielt, aber dieses Mal sind sie die Hauptakteurinnen. Proteste beginnen jedes Mal aus irgendeinem Grund, Wirtschaft, Umwelt, Korruption. Heute haben all diese Gründe und vor allem Frauenrechte, soziale Ungleichheit und Unfreiheiten die Leute noch wütender gemacht als zuvor. Alles hat sich gesammelt und aufgestaut. Ich habe das Gefühl, dass die Menschen bei früheren Protesten noch Veränderung, Verbesserung forderten – diesmal wollen sie das Regime komplett stürzen.

Die Menschen haben nicht mehr so viel Angst wie früher. Die Frauen sind sehr viel mutiger geworden. Sie gehen einfach ohne Hidschab zu einem Restaurant – obwohl sie wissen, dass sie deshalb verhaftet werden können.

Ich hoffe wirklich, dass sich diesmal etwas verändert. Ob das Regime wirklich gestürzt wird, weiß ich nicht. Ich bin optimistisch. Aber wir haben natürlich auch Angst, was danach passiert. Es ist nicht so einfach, dass es eine Revolution gibt, das Regime wird gestürzt, und danach ist alles gut.

***

32-Jährige aus Teheran: "Wir Journalistinnen können nicht schweigen"

Die Diskussionen bei den Redaktionssitzungen waren heftig. Aber wir wollten trotzdem bei der Wahrheit bleiben. Wir haben erfahren, dass 28 Journalistinnen und Journalisten, die wir kannten, verhaftet worden sind. Außerdem haben viele von uns Warnungen per SMS bekommen. Unser Chef wurde sogar schriftlich ermahnt, nicht über die Demos zu berichten. Ich bin seit acht Jahren als Journalistin tätig. Ich habe mich die ganze Zeit sozialen Themen gewidmet. Mehrere Kollegen haben über die Demonstrationen und was sie selbst erlebt haben, berichtet. Einer erzählte, was an der Universität in Teheran vor sich ging und wie die Studierenden Parolen riefen, die bis dahin undenkbar waren. Und sogar die Leute vor der Uni wiederholten sie begeistert.

Alle in der Redaktion waren der Meinung, dass diesmal viel auf dem Spiel steht und die Demos und Parolen auf das ganze System zielen. Die Frage war nun, wie sollten wir vorgehen. Berichten durften wir nicht. Schweigen können wir auch nicht. Wir haben beschlossen, dass jede und jeder bei ihren Themen versuchen solle, zwischen den Zeilen zu berichten. Der Chef wollte alles kontrollieren und auffällige Sätze entfernen.

Unsere Fotografen haben Bilder von jungen Mädchen geliefert, die mutig ohne Kopftuch, Hand in Hand, mitten auf der Straße gingen und für Begeisterung bei den Passanten sorgten. Wir alle sind im Internet aktiv. Aber wir wissen, dass unser Account kontrolliert wird. Trotzdem können wir unsere Informationen mit anderen Journalistinnen und Journalisten teilen. Das Internet wird ständig unterbrochen, aber wir haben gelernt, die Barrieren zu durchbrechen. Wir bekommen immer wieder neue Aufnahmen und Berichte von unseren Lesern, die anonym bleiben wollen. Obwohl wir die Stimmung im Land kennen und wissen, was die Leute über das System denken, dürfen wir nicht berichten. Wird man uns das verzeihen? Wir haben ein schlechtes Gewissen, aber was können wir machen?

***

24-Jährige aus Teheran: "Dieser Moment hat etwas verändert"

Als Mahsa Amini beigesetzt wurde, saß ich zu Hause und arbeitete. Da sah ich auf Instagram einen Protestaufruf: "Kommt um 18 Uhr zur feministischen Solidaritätskundgebung für Amini." Lange wollte ich unbedingt auswandern, mein Leben außerhalb dieses Systems verbringen, in Freiheit ohne Kopftuch. Ich gab auf der Uni mein Bestes, doch meine Familie hat sehr beschränkte Mittel. Eines Tages dämmerte mir: Sie, diese Regierung, sollte das Land verlassen, nicht ich. Ich habe bereits an einigen Protestkundgebungen teilgenommen und hegte keine großen Erwartungen. In den letzten Jahrzehnten hat es wiederholt mutige Proteste gegen das Regime gegeben. Aber sie bewirkten keine Veränderungen. Kurz vor 18 Uhr legte ich mir den Schleier um und brach auf. Auf dem Weg aus der Tür schnappte ich mir noch den Rucksack – nicht ahnend, dass dieser mich vor Unheil bewahren würde.

Viele waren auf den Straßen. Die Kundgebung hatte noch gar nicht begonnen, schon sah ich einen Mann, der nach einem Schlag durch Ordnungskräfte am Kopf blutete.

Im Park ein Menschenmeer, wie ich es noch nie gesehen hatte. Wie in einem Traum, der plötzlich Wirklichkeit wird, stimmten wir an: "Frau, Leben, Freiheit". Dann zogen wir uns die Schleier vom Kopf und warfen sie in die Luft. Dieser Moment hat etwas in mir verändert – in uns allen. Dann kamen die Schlagstöcke. Die Polizei schlug blind in die Menge. Auch mich. Doch ich spürte kaum Schmerzen. Erst zu Hause, als ich meinen Rucksack auspackte, merkte ich, warum: Der Behälter, in dem ich sonst mein Essen habe, war total deformiert.

Ich will trotz zunehmender Gewalt zu den Protesten gehen, auch wenn sie traumatisch sind: Es bedeutet, Abend für Abend blutüberströmte Menschen zu sehen und Festnahmen tatenlos zusehen zu müssen. Die Sicherheitskräfte haben Waffen, wir nur Hände und Steine. Außerdem plagt mich die Sorge um drei Freunde, die inhaftiert wurden. Ich fürchte mich auch davor, dass die Polizei in der Nacht an meine Tür klopft, um mich abzuholen, weil sie mich protestieren gesehen haben. Besonders sorge ich mich um die Menschen im südostiranischen Balutschistan, die kaum Fürsprecher im Ausland haben. Von dort gibt es viele Berichte über Tote.

Wir müssen das Regime loswerden. Wie Karl Marx sagte: Wir haben nichts mehr zu verlieren als unsere Ketten.

***

19-Jährige aus Teheran und Gilan: "Koste es, was es wolle"

Dieses Jahr habe ich mein Studium der Mechanik an der Sharif-Universität in Teheran begonnen, ich komme eigentlich aus Gilan im Norden des Landes. Ich war auf dem Weg zur Uni, als ich die schwarzen Autos sah. Vor der Uni waren schon die Kommandos in voller Ausrüstung in Stellung gegangen, aber das Tor war offen. In der Hoffnung, dass ich in der Uni in Sicherheit wäre, ging ich hinein. Drinnen waren alle Studierenden im Hof versammelt und riefen "Frau, Leben, Freiheit!" oder "Nieder mit der Islamischen Republik!".

Ich stand abseits und versuchte, meinen Freund zu finden. Plötzlich stürmten die Kommandos die Uni. Viele Demonstrierende sind zum Parkplatz gerannt, verfolgt von den Sicherheitskräften. Ich selbst drückte mich an die Wand. Als Sicherheitskräfte an mir vorbeiliefen, schlug mich einer mit einem Stock in den Bauch. Vor Schmerzen ging ich in die Knie, das war wahrscheinlich meine Rettung. Langsam schlich ich zum Ausgang. Draußen sah mich ein Autofahrer und nahm mich mit.

Mein erstes Semester fängt ja gut an, dachte ich mir. Ich habe meine Matura mit Sehr gut bestanden. Ich habe es geschafft, einen Studienplatz auf der Sharif-Universität zu bekommen. An dieser Uni zu studieren ist ein Privileg, das nur den Besten im Iran zuteilwird. Meine Eltern baten mich, vorsichtig zu sein. Aber wie kann ich auf ihren Rat hören, wenn meine Kommilitoninnen in der Uni verhaftet oder verprügelt werden? Ich werde morgen wieder zur Uni gehen. Wir müssen uns endlich von den auferlegten Zwängen befreien. Koste es, was es wolle.

(Noura Maan, Flora Mory, 8.10.2022)