"Wir erleben einen fortgesetzten Anschlag auf die spezifische Identität der europäischen Demokratie", sagt der Kabarettist Hosea Ratschiller, einige Jahre selbst Mitglied der FM4-Redaktion, im Gastkommentar zur Debatte um die ORF-Radios.

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Radio als bequeme Soundkulisse? Radio kann auch Gegenkultur sein, wenn man es lässt.
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Das öffentlich-rechtliche Radio in Österreich sucht seinen Platz in der Gegenwart. Direktorin Ingrid Thurnher wendet sich in dieser Angelegenheit jetzt an die Öffentlichkeit. Sie präsentiert aber kein Ergebnis, sondern macht einen laufenden Prozess transparent. Ich finde diesen Schritt richtig. Immerhin ist der ORF eine öffentliche Angelegenheit, ein Schlüsselelement demokratischer Entwicklung. Reden wir darüber.

Die Idee "öffentlich-rechtlicher Rundfunk" gibt es seit 100 Jahren. Als Gegenentwurf zum Wildwuchs in den USA wollte man die kommerziellen und inhaltlichen Möglichkeiten des Radios in England behördlich regulieren. Weil Radioapparate verkauft werden sollten, musste es ein Programm geben. Und dieses Programm stellte die BBC. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk war vom ersten Tag an ein Zweckbündnis von öffentlicher Hand und Privatwirtschaft. Das Primat der Politik in diesem Projekt wurde zugelassen, weil kaum jemand damit rechnete, dass hohe Politik in Europa jemals signifikant von den Interessen der Privatwirtschaft abweichen würde. So hat man unabsichtlich Kulturgeschichte geschrieben.

Radikales Info-Radio

Bis heute gibt es in den USA radikales Info-Radio mit enormer Reichweite. Religiöser Fundamentalismus, militante Hetze und antiaufklärerische Propaganda erreichen täglich über Mittelwelle und Ultrakurzwelle ein Millionenpublikum. In Europa gibt es das nicht. Auch hier war Radio zuerst ein Propagandainstrument von Antidemokraten. BBC-Gründer John Reith war ein heimlicher Bewunderer Hitlers. Dessen Stimme wiederum entfaltete über "Volksempfänger" ihre Breitenwirkung. Das Radio hat sich in Europa aber mit der Gesellschaft mit demokratisiert. Ohne seine tief verankerte öffentlich-rechtliche Struktur wäre das unmöglich gewesen.

Die große Stunde des öffentlich-rechtlichen Rundfunks schlug in den 1960er- und 1970er-Jahren. Man erklärte sich kurzerhand selbst zu einer jener Institutionen, durch die der lange Marsch zur Demokratie angetreten werden musste. Verkündigung und Verlautbarung hatten ausgedient, jetzt wurde diskutiert, erklärt, provoziert, geblödelt und gedacht. Filme und Serien formten Geschichtsbilder, das Kinderprogramm verbreitete Reformpädagogik, Samstagabendshows spielten mit Tabus, und das kleine Fernsehspiel brachte großes Autorentheater ins Wohnzimmer, in jedes Wohnzimmer. Es folgte ein Aufschwung demokratischer Populärkultur in Europa, der durch die Renaissance des Autoritären zwar gebremst, aber bis heute nicht ganz gestoppt werden konnte.

"Seit den 1980ern wird mit allen Mitteln versucht, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu zerstören."

Das Spiel läuft jetzt umgekehrt. Wirtschaft und Politik sollen möglichst getrennt werden, und zwar so, dass alle Macht sich aufseiten der Wirtschaft konzentriert. Autoritäre Kräfte halten ein derartiges Gesellschaftsmodell für notwendig, beeindruckt auch von der unerwartet demokratischen Entwicklung, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk nach 1945 in Europa genommen hat. Seit den 1980ern wird jedenfalls mit allen Mitteln versucht, ihn zu zerstören.

Seit Jahrzehnten wird öffentlich-rechtliches Radio, unter Federführung von Consultingfirmen, zum pragmatisierten Alltagsgeräusch kastriert. Das Schöne und Spannende und Sinnvolle ist immer dann zu hören, wenn Redakteurinnen und Redakteure sich auf Basis von Gesetzen gegen diese Entwicklung stemmen, und niemals, weil es von oben in Auftrag gegeben oder ausreichend finanziert wurde. Ähnliches gilt für den öffentlichen Bildungssektor, die Sozialversicherungen und die Justiz. Wir erleben einen fortgesetzten Anschlag auf die spezifische Identität der europäischen Demokratie.

Wenig Spielraum

Zu Beginn des Jahrtausends war ich – unterbrochen durch Zivildienst und beendet von Ö1 – Teil der Redaktion von Radio FM4. Die Sendezeit war gerade von bis dahin elf auf jetzt 24 Stunden ausgeweitet worden. Aus einem Programmfenster sollte ein Sender werden. Am vierten Tag, an dem FM4 tatsächlich 24 Stunden sendete, ging die Regierung unterirdisch zur Angelobung, wenig später wurden für den G8-Gipfel in Genua die Menschenrechte außer Kraft gesetzt, dann steuerten Terroristen Flugzeuge ins World Trade Center, und die Welt meiner Kindheit und Jugend war weg. Mark Zuckerberg war damals 17 Jahre alt.

Klar wollten wir eine möglichst spannende, relevante Stimme sein. Aber öffentlich-rechtlicher Rundfunk wurde schon zu Beginn des Jahrtausends unter Existenzdruck produziert. Und der hat sich seither verschärft. Für Innovation und Reflexion ist wenig Spielraum, die Voraussetzung für Qualität bleibt Selbstausbeutung. Ein Vorhaben war damals zum Beispiel, FM4 als genuin mehrsprachiges Popformat zum ersten europaweiten Sender auszubauen. Das Konzept für die EU-Kommission war schon in Arbeit. Aber gleichzeitig haben sich ein paar der schlauesten Köpfe, die mir je begegnet sind, täglich Gewinnspiele und Firmenkooperationen ausgedacht, um ihre Arbeitsplätze zu finanzieren.

"Ö1 und FM4 sind Orte der Gegenkultur."

Das Leben ist kein Hit. Dass ein Sender, der so etwas behauptet, kontinuierlich Publikum verliert, ist keine große Überraschung. Wesentlich bemerkenswerter ist, wie stark Ö1 sein Publikum in den letzten Jahrzehnten ausbauen konnte und wie verlässlich FM4 seines hält. Ihr Erfolg sucht europaweit seinesgleichen. Was die einen falsch machen, ist also offensichtlich, aber was machen die anderen richtig?

Ich behaupte, Ö1 und FM4 sind Orte der Gegenkultur. Während der kulturelle Mainstream sich von der Demokratie abwendet, repräsentieren diese beiden Sender einen von der Aufklärung geprägten Blick. Sie sind gallische Dörfer für demokratische Entwürfe von Politik, Wissenschaft und Kunst. Genau das macht sie bei ihrem Publikum so beliebt. Warum wachsen sie dann nicht? Weil sie weder sollen noch dürfen. Statt über öffentlich-rechtliches Internet nachzudenken, verscherbelt Europa sein Familiensilber. Ein Imperium ist ein Imperium und ein gallisches Dorf ein gallisches Dorf.

Demokratische Gegenkultur

Mein Vorschlag für alle, die das öffentlich-rechtliche Radio in Österreich retten wollen, ist also, ja, unterschreibt Petitionen für Ö1 und FM4, weicht keinen Millimeter zurück, hört zu, mischt euch ein, es sind eure Sender. Aber denkt vor allem über eines nach: Auch Ö3 ist Teil der Radiolandschaft. Wie könnte es sich noch selbstbewusster zu erkennen geben als das, was es ist: ein starker, wichtiger Teil der demokratischen Gegenkultur in Österreich. Helfen wir Ö3 beim Gewinnen, formulieren wir einen Gegenkulturauftrag. (Hosea Ratschiller, 9.10.2022)