Umstritten und gefeiert: Star-Dirigent Teodor Currentzis.

Foto: Alexandra Muravyeva

Wien – Vor dem Aufbruch nach Utopia, Freitagabend vor dem Konzerthaus: alles friedlich, keine Demonstrationen wie noch bei Anna Netrebkos Auftritt an der Staatsoper Anfang September. Zusammen mit der Starsopranistin war Teodor Currentzis klassikweltweit zum Diskussionsobjekt in Sachen Kriegs-Erklärung geworden. Genauer: Viele erwarteten von den Weltstars eine Erklärung bezüglich des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die Austrorussin verurteilte den Krieg, der griechische Wahlrusse gab den Lohengrin ("Nie sollst du mich befragen") und schwieg.

Currentzis‘ Gründung des Utopia-Orchesters wurde mancherorts als Versuch gewertet, sich kritischer Befragung zu entziehen und weiter weltweit zu musizieren. Sein von der sanktionierten VTB-Bank mitfinanziertes Ensemble MusicAeterna aus St. Petersburg wurde im Ausland teils temporär ausgeladen – auch vom Wiener Konzerthaus. Dem von der Kunst und Kultur DM Privatstiftung von Dietrich Mateschitz unterstützten Orchester Utopia stehen bislang die Türen von vier Konzerthäusern offen.

In Wien war das Ende des ersten Utopia-Auftritts ein Fest der Freude und der Völkervereinigung: Die 116 Musikerinnen und Musiker aus 30 Nationen, sonst zumeist in europäischen Spitzenorchester beschäftigt, umarmten einander und auch den Chef mehrfach und selig. Zuvor hatte man die Zugabe, Ravels "Bolero", mit jener mediterranen Leichtigkeit begonnen, die auch den vorangegangenen Oktobertag ausgezeichnet hatte. Nach dem steten Anstieg der Dynamik wurde am Ende ein mächtiges Plateau der Zuversicht erklommen. Strahlende Mienen im Orchester und im Publikum.

Die Tausend Klangfarben blieben aus

Der gemeinschaftliche Geist von MusicAeterna war schon im letzten Programmpunkt aufgeflammt, bei Ravels "La Valse". Fast schon beängstigend dynamisch und exzellent das Niveau der Interpretation dieser Hommage an den Wiener Walzer. Die beiden Ballettsuiten davor, Igor Strawinskis "L’oiseau de feu" (in der Fassung von 1945) und Ravels "Daphnis et Chloé" (2. Suite), wurden souverän absolviert, das große Staunen wollte sich aber nicht einstellen. Currentzis‘ großspurige Ankündigung, man würde statt mit einem halben Dutzend Klangfarben (wie normalsterbliche Orchester) mit hunderten oder tausenden malen, sollte sich nicht erfüllen. Utopia bot die beiden prachtvollen Werke auf dem Level erstklassiger Gastorchester auf Tournee. Von den Orchestersolisten sorgte vor allem die Oboe für magische Momente.

Mit den Werken von Ravel und Strawinski war das Programm leider etwas gleichförmig gebaut: drei Mal zauberhafte Effekte, Klimbim und Feuerwerk, drei Mal Fin de Siècle-Prunk in großer, schillernder Toilette. Im Juni 23 interpretiert das Konzerthaus-Ehrenmitglied Currentzis mit Utopia Mahlers dritte Symphonie. Zumindest Umarmungen sind für diesen Termin gewiss. (Stefan Ender, 8.10.2022)