Im Büro des Center for Civil Liberties in Kiew freute man sich über die Nachricht vom Nobelpreis. Die gleichzeitige Verleihung an Aktivisten aus Russland und Belarus stieß aber schnell auf Kritik.

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Odessa – Die Gewinner des Friedensnobelpreises 2022 waren gerade erst bekannt gegeben worden, als Mychajlo Podoljak, einer der hochrangigsten Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, sein Urteil über die Entscheidung von Oslo mit der halben Million Menschen teilte, die ihm auf Twitter folgen: "Das Nobelpreiskomitee hat ein interessantes Verständnis von ,Frieden’, wenn zwei Repräsentanten aus Ländern ausgezeichnet werden, das ein drittes attackiert hat. Weder die russischen noch die belarussischen Organisationen waren in der Lage, Widerstand gegen den Krieg zu organisieren. Der Nobelpreis dieses Jahr ist ,echt geil’." Was dem 50-Jährigen sauer aufstieß: Neben dem ukrainischen Zentrum für bürgerliche Freiheiten kamen auch der belarussische Menschenrechtsaktivist Ales Bialiatski und die in Moskau beheimatete Organisation Memorial in den Genuss der Auszeichnung.

Der heute 60-jährige Bialatski kämpfte schon zu Zeiten der Sowjetunion gegen die autoritären Strukturen in seinem Land und sitzt dort heute im Gefängnis. Memorial ist ein 1989 in Moskau gegründeter Verein, der sich der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen durch den russischen Staat und denen seines sowjetischen Rechtsvorgängers widmet. Natalja Estemirowa, eines der prominentesten Gesichter von Memorial, wurde 2009 in Tschetschenien ermordet, nachdem sie ins Fadenkreuz des dortigen Putin-Statthalters Ramsan Kadyrow geraten war. Am Tag der Verleihung des Nobelpreises an ihre noch lebenden, seit Jahrzehnten massiven Schikanen ausgesetzten Mitstreiter ordnete ein Moskauer Gericht an, dass das Haus, in dem die letzten Aktivisten ihrer Arbeit nachgehen, nunmehr vom Staat beschlagnahmt sei. Ungeachtet all dessen sieht Mychajlo Podoljak diese Leute nicht nur als Repräsentanten ihrer Länder, sondern stempelt sie als unfähig ab, weil sie es bis heute nicht geschafft haben, die totalitären Regime in Belarus und Russland zu stürzen.

Ablehnung des Preises gefordert

Die Tatsache, dass das Nobelpreiskomitee regelmäßig Individuen und Organisationen auszeichnet, die für ihre Länder bisweilen so repräsentativ sind wie der jüngst im Rahmen eines Gefangenenaustauschs nach Russland überstellte ukrainische Ex-Politiker und Putin-Freund Wiktor Medwedtschuk für sein eigenes, ficht den Ex-Journalisten und Politiker nicht an. Ebenso wenig wie die fast 6.000 Leute, die an seinem Tweet Gefallen fanden und ihn vielfach entsprechend kommentierten. Wie sich in den Stunden nach Bekanntgabe der Preisträger erwies, stand Podoljak mit seiner Meinung indes bei weitem nicht alleine da.

Von höchster Regierungsebene angestachelt, suchten sich in der Folge zehntausende Ukrainer auf Facebook, Twitter, Instagram und Co. in der Verurteilung der Entscheidung von Oslo gegenseitig zu überbieten. Bis hin zur Forderung an die ukrainischen Preisträger, den Nobelpreis nicht anzunehmen, weil das, wie es der prominente Rechtsanwalt, Ex-Politiker und Publizist Mustafa Najjem formulierte, "angesichts der Rahmenbedingungen besser sei und die sehr gute Arbeit des Zentrums für bürgerliche Freiheiten noch besser machen wird." Während sich die Argumentationsstränge, warum die Annahme des Preises problematisch sei, mannigfaltig darstellten, blieb das ihnen zugrunde liegende Muster stets das gleiche. Motto: Wir Ukrainer sind nicht nur die einzigen, die einen legitimen Anspruch auf das Opferlabel haben, sondern auch die einzigen, die im Gegensatz zu allen anderen bisher auf bedeutungsvolle Weise Widerstand gegen Russland geleistet haben und bis heute leisten.

Bärendienst für Selenskyj

Das Bild, das die bisweilen mit extrem klischeehafter, undifferenzierter Anti-Imperialismus-Rhetorik aufgeladene Diskussion in der Konsequenz abgab (Stichwort "Westsplaining"), entsprach so mutmaßlich dem Gegenteil von dem, das ihre Wortführerinnen und -führer – oft in den USA und der EU akademisch ausgebildete, zumindest aber allzu offensichtlich von westlichen Kulturkampf-Debatten beeinflusste Aushängeschilder der ukrainischen Zivilgesellschaft wie die Kulturmanagerin Bohdana Neborak und die Designerin Mariam Naiem – abgeben wollten: das eines kleinmütigen, zutiefst provinziellen Chauvinismus, das sich allem voran durch einen Exklusivanspruch auf die Opferrolle auszeichnet. Dem Image der Ukraine als das eines weltoffenen Landes, dessen Gesellschaft seine multilinguale, multiethnische Zusammensetzung ebenso zelebriert wie seine liberale Demokratie, das die Selenskyj-Regierung heute den westlichen Öffentlichkeiten verkauft, erweisen sie damit einen Bärendienst.

Von der faktischen Manifestation einer himmelschreienden Doppelmoral ganz abgesehen, die die Führung des Landes keine 24 Stunden vor der Bekanntgabe der heurigen Friedensnobelpreisträger offenbarte. Während die innerhalb supranationaler Institutionen stationierten ukrainischen Diplomaten seit Kriegsbeginn darauf drängen, den Abwehrkampf ihres Landes gegen die russischen Invasoren offiziell als versuchten Völkermord zu klassifizieren – eine angesichts der russischen Taten wie der Rhetorik des Kremls nach allen herkömmlichen Maßstäben legitime Forderung – hat Kiew mit von Menschenrechtsorganisationen hinlänglich dokumentierten genozidalen Praktiken andernorts offenbar kein Problem. Bei der Abstimmung im Uno-Menschenrechtsrat über eine Verurteilung der Behandlung der Uiguren in China, einer weltweit rund 15 Millionen Menschen umfassenden turksprachigen Ethnie, deren dort lebende Mitglieder seit Jahren schwersten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind, enthielt sich die Ukraine der Stimme. (Klaus Stimeder aus Odessa, 8.10.2022)