Der Soziologe, Anthropologe und Philosoph Bruno Latour im Jahr 2021.
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Der französische Philosoph und Soziologe Bruno Latour ist tot. Wie sein Verlag Les Éditions La Découverte in Paris bestätigte, starb Latour in der Nacht auf Sonntag im Alter von 75 Jahren an den Folgen von Bauchspeicheldrüsenkrebs. Latour galt als einer der einflussreichsten zeitgenössischen Intellektuellen Frankreichs und wurde unter anderem als "einer der großen Erneuerer der Sozialwissenschaften" geehrt. Er war Professor an der Elitehochschule Sciences Po in Paris. Seine Bücher sind in mehr als 20 Sprachen erschienen.

Der 1947 im zentralfranzösischen Beaune in eine berühmte Winzerdynastie geborene Latour beschäftigte sich in seinen frühen Werken mit der Praxis der Forschung und damit, wie wissenschaftliche Fakten entstehen. Internationale Bekanntheit erlangte Latour mit seiner wissenschaftssoziologischen Studie "Laboratory Life: The Construction of Scientific Facts", die er gemeinsam mit dem britischen Soziologen Steve Woolgar im Jahr 1979 publizierte.

Vom Sozialkonstruktivismus...

Inspiriert von anthropologischen Feldforschungen untersuchten Latour und Woolgar detailliert, wie im renommierten Salk Institute for Biological Studies in Kalifornien in der Gruppe des Neurowissenschafters Roger Guillemin wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden. Die beiden begründeten den sozialkonstruktivistischen Ansatz der "Laborstudien" und prägten damit die Wissenschafts- und Technikforschung nachhaltig.

Während Gegenstände wissenschaftlicher Erkenntnis wie Zellen oder Quarks herkömmlich als etwas verstanden werden, was "da draußen" in der Natur entdeckt wird, betonten Latour und Woolgar, wie diese Entitäten im Zusammenspiel von Wissenschaftern und Geräten "konstruiert" werden.

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In einem weiteren frühen Hauptwerk – "Science in Action: How to Follow Scientists and Engineers through Society" (1987) – entwickelte er diesen Ansatz weiter und ging in gewisse Distanz zum Sozialkonstruktivismus: Latour arbeitete mit seinem französische Kollegen Michael Callon die sogenannte Aktor-Netzwerk-Theorie aus, die nicht-menschlichen Akteuren (auch und zumal in der Wissenschaft) eine besondere Rolle zuweist. Gemäß dieser Sichtweise handeln in einer Gesellschaft nie Menschen als alleinige Akteure, sondern immer in Abhängigkeit zu anderen Akteuren, zu denen auch Gegenstände oder Maschinen zählen.

Latour, fraglos einer der originellsten Denker und Theoretiker der letzten Jahrzehnte, dachte diesen Ansatz auch politisch weiter: So entwickelte er 1989 die Idee eines "Parlaments der Dinge", in dem auch nicht-menschliche Akteure mitentscheiden sollen.

"Krieg der Wissenschaften"

Mit seinen Ansätzen, die konventionelle Vorstellungen von wissenschaftlicher Praxis als objektiver Wahrheitserzeugung unterliefen, eines Latour geriet in den 1990er-Jahren ins Kreuzfeuer einer erbittert geführten Kontroverse zwischen Naturwissenschaftern einerseits und Geistes- und Sozialwissenschaftern andererseits, die unter der Bezeichnung "Krieg der Wissenschaften" (engl. "Science Wars") in akademischen Kreisen diskutiert wurde: Manche Naturwissenschafter wie der Physiker Alan Sokal empfanden es als Angriff auf ihren Anspruch objektiver Erkenntnis, dass Wissenschaftsforscher wie Latour ihre Mechanismen der Wahrheitsproduktion erkundeten.

Wegen seiner Feldstudien in Gerichten und Labors, deren Ergebnisse er in umfassende Denkmodelle einordnete, bezeichnete sich Latour als "empirischen Philosophen", der von sich eher behauptete, nicht wirklich gut abstrakt denken zu können. Ein Kennzeichen seines Werks war die Verknüpfung solcher Fallstudien – etwa über Pasteur oder die das gescheiterte französische Metro-Projekt Aramis – mit großen theoretischen Ansprüchen, etwa die Moderne oder das Verhältnis von Natur und Gesellschaft (etwa in"Wir sind nie modern gewesen", orig. 1991) neu zu denken.

Ökologischer Vordenker

In den letzten Jahren dehnte Latour seine Überlegungen auf die Ökologie aus. Wichtiger Ideengeber war dabei der Chemiker James Lovelock, der im Juli dieses Jahres verstarb und mit der Gaia-Hypothese, wonach der Planet Erde als lebendiger Organismus verstanden werden muss, ein ein zentrales Konzept für das Spätwerk von Latour lieferte.

In seiner 2017 auf Deutsch erschienenen Vortragsreihe "Kampf um Gaia", einem weiteren Hauptwerk, plädierte er angesichts der Klimakrise für einen neuen Naturbegriff und für eine Repolitisierung der Ökologie: Wissenschafter, Theologinnen, Aktivisten und Künstlerinnen sollten im Anthropozän neue Formen der Zusammenarbeit wagen. Zuletzt folgten "Das terrestrische Manifest" und Ende 2021 "Où suis-je?" ("Wo bin ich?") mit dem Untertitel: "Lektionen aus dem Lockdown".

Eines der letzten großen Interviews mit Bruno Latour, in dem er noch einmal seine wichtigsten Ideen und Konzepte zusammenfasst.
ARTE.tv Documentary

Latour war im bisherigen 21. Jahrhundert der meistzitierte lebende Sozialwissenschafter Frankreichs und wurde für sein umfangreiches, stets anregendes Werk mit vielen wichtigen Preisen geehrt: 2008 etwa mit dem Siegfried-Unseld-Preis; 2013 wurde ihm der hoch dotierte Holberg-Preis für seine "ambitionierte Analyse und Neuinterpretation der Moderne, betreffend fundamentale Kategorien wie die Unterscheidung zwischen modern und vor-modern, Natur und Gesellschaft, Mensch und Nicht-Mensch" zugesprochen. 2021 erhielt er den Kyoto-Preis, eine Art "japanischer Nobelpreis".

"Humanistischer Geist"

Latour wirkte weit über die Wissenschaft hinaus und entfaltete insbesondere in der Kunst großen Einfluss – dazu trugen auch seine Kollaborationen mit dem österreichischen Kunsttheoretiker Peter Weibel am ZKM in Karlsruhe bei. Aber auch in der Politik wurde Latour rezipiert. Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron würdigte den verstorbenen Denker als humanistischen und pluralistischen Geist und drückte die Anerkennung der französischen Nation für Latour aus:

"Seine Überlegungen und seine Schriften werden uns auch weiterhin zu neuen Verhältnissen zur Welt inspirieren", heißt es in Macron Nachricht unter anderem. Und Premierministerin Élisabeth Borne schrieb, Latour hinterlasse Werke, die auch in Zukunft das Bewusstsein anregen. (Tanja Traxler, tasch, APA, 9.10.2022)