Harald Philipp und Katharina Fritzenwallner erkunden ihre neue Heimat Ligurien auf dem E-Mountainbike.

Foto: Stefan Voitl

Der Extremmountainbiker und Vortragsreisende Philipp hat die Pandemie genutzt, um sein Leben von Grund auf neu zu organisieren.

Foto: Markus Greber

Das neue Leben bedeutet viel Arbeit und viel Freiheit.

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Seit zwei Jahren renovieren Philipp und Fritzenwallner ihr altes Haus in Ligurien.

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Ein benachbarter Schäfer schenkte den Neuankömmlingen einen Hund – mittlerweile ist Momo ein trainierter Traildog.

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Innsbruck/Triora – Mit dem Bike-Bergsteiger und Abenteurer Harald Philipp startete vor bald sechs Jahren die STANDARD-Tretlager-Kolumne. Damals war der gebürtige Deutsche noch dem Flow auf der Spur. Also jenem unvergleichlichen Gefühl, das Mountainbiken zu der Leidenschaft macht, die einen nie wieder loslässt, wenn man es einmal gespürt hat. Philipp hat seinen persönlichen Flow an den entlegensten Orten dieses Planeten gesucht, sogar im Himalaja hat er sein Fahrrad auf über 5.000 Meter hochgetragen, um den Holy Trail zu finden, die ultimative Abfahrt.

Dann kam die Corona-Pandemie, und sie sollte auch das Leben des Ausnahmebikers nachhaltig verändern. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin Katharina Fritzenwallner beschloss er im Frühjahr 2020 sprichwörtlich, die Koffer zu packen und den Lockdown in der Innsbrucker Stadtwohnung hinter sich zu lassen, um im italienischen Bergdorf Triora in ein neues Leben und Abenteuer zu starten.

Einsames Bergdorf statt Lockdown in der Stadt

"Vor gut zehn Jahren habe ich hier eine Ruine gekauft", erzählt Philipp. Als sein Umfeld in Eigentumswohnungen und Eigenheime in Tirol investierte, beschloss Philipp, das bisschen Ersparte in einen 300 Jahre alten Steinhaufen in Ligurien zu investieren. "Ich hab damals vor und nach der Bikesaison hier Zeit verbracht, um noch ein paar Trails zu fahren." Die Idee, auszuwandern und in Italien neu zu starten, kam erst später im Zuge der Pandemie. "Statt monatelang im Lockdown in Innsbruck zu sitzen, haben wir uns dafür entscheiden, die Corona-Pandemie lieber in einem verlassenen Bergdorf auszusitzen", erzählen die beiden von der Entschlussfassung.

Trailer zu "Leaving Tracks" von Harald Philipp.
Summitride

Der Weiler, in dem sie leben, liegt auf gut 1.300 Metern Seehöhe. Als sie im Sommer 2020 hierher zogen, waren sie die einzigen permanenten Einwohner in der kleinen Siedlung. "Triora umfasst eine kleine Stadt mit zwölf noch kleineren Dörfern und hatte einmal 3.500 Einwohner, heute sind es gerade noch 120, die ständig unten im Ort leben", erzählen Philipp und Fritzenwallner, während sie die Herbstsonne auf der Terrasse vor ihrem Steinhaus genießen. Zwei Jahre lang wohnten sie ohne Dusche in ihrem Häuschen, dann sorgte der Bürgermeister dafür, dass auch bei ihnen oben ein Wasseranschluss installiert wurde.

Kein Wasser, dafür Internetanschluss

"Wir hatten von Beginn an Strom und Internet über Satellit, so konnten wir zumindest arbeiten", sagen sie rückblickend. Die beiden haben ihr kleines Reich in mühevoller und monatelanger Handarbeit selbst instand gesetzt. Das wäre an sich schon eine Herausforderung, sagen sie; wenn der nächste Baumarkt aber gut 50 Kilometer entfernt und der nächste Alimentari, also ein kleiner Supermarkt, rund eine halbe Autostunde weg ist, verschärft das die Rahmenbedingungen zusätzlich.

"Wenn du dein Wasser monatelang 500 Meter weit tragen musst, bekommst du ein neues Bewusstsein für den Wert der Dinge", sagt Philipp. Er und Fritzenwallner leben heute "zu 80 Prozent autark". Der Strom kommt großteils aus einer Photovoltaikanlage, und sie bauen auf den Terrassen rund um ihr Haus allerlei Gemüse und Früchte an. Es ist ein ständiger Lernprozess, wie Philipp erklärt: "Wir haben es heuer mit Gerste versucht. Das bedeutet Arbeit für vier bis fünf Leute, über Monate hinweg, damit man am Ende 8,5 Kilogramm Mehl hat. So bekommt Achtsamkeit eine ganz neue Bedeutung."

Ins Dorf integrieren

Mittlerweile haben sich die beiden in der Dorfgemeinschaft eingefunden, gehören dazu und fühlen sich in Ligurien zu Hause. Dazu war es wichtig, zuerst die italienische Sprache zu lernen. "Man merkt, dass man angenommen wird, wenn die Einheimischen anfangen, einen zu korrigieren, wenn man Fehler macht", haben die beiden herausgefunden. Im entlegenen Dorf hilft man sich gegenseitig, sei es nach Unwettern oder beim Honigproduzieren, und so entstanden schnell Freundschaften. "Es kam bei vielen sehr gut an, dass wir die ersten jüngeren Leute seit langem sind, die sich hier angesiedelt haben. Denn eigentlich gibt es seit Jahrzehnten nur Wegzug von hier", berichten sie.

Als Aussteiger im klassischen Sinn fühlen sich Philipp und Fritzenwallner aber nicht. Sie haben vielmehr ihren Lebensstil radikal verändert. "In unserem neuen Leben wurden Tages- und Jahreszeiten plötzlich enorm wichtig", erzählt der Extrembiker vom Wandel. So haben die beiden im September fast nur von Pilzen gelebt, die sie selbst gesammelt haben. "Man macht sich Gedanken über Dinge, die bisher kein Thema waren. Seit wir hier leben, weiß ich sehr genau, was mit unserem Abwasser und den Fäkalien passiert. Auch das gehört dazu", beschreibt Philipp die Rückbesinnung auf die grundlegenden Kreisläufe.

Acht-Tage-Woche statt Aussteigertum

Das Leben wurde zwar einfacher, aber keineswegs leichter und stressfrei. Fragt man die beiden nach ihrem Wochenplan, lautet die Antwort: zwei Office-Tage, zwei Baustellentage, zwei Gartentage und zwei Bike-Tage. "Vor 20 Jahren wäre das Leben hier noch eine Art Hardcore-Aussteigen gewesen, heute ist vielmehr eine Umstellung des Lebensstils", erklären die beiden.

Fritzenwallner ist selbstständig in der Eventorganisation tätig. Ein Job, den sie großteils online, also auch von Italien aus bewerkstelligen kann. Philipp ist nach wie vor Profibiker, der vor allem von Vortragsreisen lebt. "Meine Sponsoren blieben mir zum Glück erhalten, die Vorträge sind durch Corona aber komplett weggebrochen", sagt er. Waren es 2019 noch gut 50 Termine pro Jahr, in denen der "Geschichtenerzähler" ganze Hallen in Deutschland, Österreich und der Schweiz gefüllt hat, so läuft das Geschäft nun erst langsam wieder an.

Im November wird Philipp endlich wieder unterwegs sein und dabei auch von seinem neuen Leben erzählen. Der brandneue Vortrag "Leaving Tracks" berichtet mit eindrucksvollen Bildern vom Neustart in Ligurien, den er und Fritzenwallner in Italien gewagt haben. Am 16. November 2022 gibt es die Gelegenheit, Philipp und viele andere spannende Persönlichkeiten beim Salzburger Bergfilmfestival live zu erleben.

Der Wandel zum E-Biker

Das Biken selbst hat sich für Philipp sehr verändert. War er vor der Pandemie weltweit unterwegs, um neue Trails in immer noch ferneren Ländern zu finden, so beschränkt er sich mittlerweile auf sein direktes Umfeld in Ligurien. Eine bewusste Entscheidung, die Teil des Wandels ist, wie er erklärt: "Mein Weltverbrauch als Mountainbiker war enorm. Ich war fast jedes Wochenende mit dem Auto unterwegs, oder es ging mit dem Flugzeug zu Abenteuern in fernen Ländern." Der VW-Bus, sein langjähriger Begleiter auf diesen Reisen, wurde verkauft. Für wichtige Besorgungen haben Philipp und Fritzenwallner nur ihr kleines Auto behalten.

Dafür hielten zwei E-Mountainbikes Einzug in ihr Leben. "Es war ein Zufall, dass mein Bike-Sponsor Liteville genau zu Beginn der Corona-Pandemie sein erstes E-Bike auf den Markt brachte", sagt Philipp. Trug er früher sein analoges 301er auf die schroffen Karwendelgipfel rund um seine einstige Wahlheimat Innsbruck, so ist die E-Bike-Version des Liteville-Klassikers nun sein Alltagsgefährt: "Wir nutzen die E-Bikes für so gut wie alle Wege hier oben. Ob runter ins Dorf oder hinauf auf die Gipfel."

E-Mountainbike als Autoersatz

Dass E-Bikes mit ihren Lithium-Akkus ebenfalls Ressourcen verbrauchen, ist Philipp durchaus bewusst, wie er erklärt: "Klar, das ist kein reines gutes Ding. Aber es ersetzt für mich das Auto, und es hat mein Sportverhalten grundlegend verändert." Wenn er vergleicht, wie oft er früher mit dem Auto oder Flugzeug unterwegs war, um seinen Sport auszuüben, dann fällt die Bilanz eindeutig aus, ist Philipp überzeugt.

Das Paar will seinen neuen Lebensstil nicht als Vorbild verstanden wissen: "Wir wollen niemandem das Leben erklären." Ihnen sei klar, dass es "ein großes Privileg ist, was wir hier haben". Dieses Leben sei etwa als Familie mit Kindern nicht denkbar, als kinderloses Paar hingegen schaffbar. Und auch für die beiden stellt der Alltag im ligurischen Bergdorf, so schön viele Facetten daran sind, eine immer neue Herausforderung dar. "Wir entwickeln uns ständig weiter, und wir scheitern dabei auch regelmäßig", gestehen sie offen ein.

Freiheit durch Verantwortung

"Es scheint auch hier nicht jeden Tag die Sonne", sagen sie. Die Herausforderungen seien vielfältig, und oft setzt es auch Rückschläge, ob am Bau oder im Garten, die verdaut werden müssen. "Wir sehen das hier nicht als Verzicht, sondern als andere Form der Verantwortung", sagt Philipp. Der Umgang mit dieser Verantwortung bringe letztlich eine neue Form der Freiheit mit sich. Doch sie wollen dieses Leben auch nicht romantisieren, wie sie betonen.

Auch in ihrem Steinhaus in den ligurischen Bergen hinterlassen die beiden ihren Abdruck. Das sei wichtig, und daher nennt Philipp seinen aktuellen Vortrag, mit dem er ab November durch die deutschsprachigen Lande tingeln wird, auch "Leaving Tracks". Es sei wichtig, sich dessen bewusst zu sein, gerade auch als Mountainbiker, wie er sagt. Vom alten Trailbiker-Leitspruch, keine Spuren zu hinterlassen, habe er sich daher auch teils verabschiedet: "Jeder Weg, den man fährt, ist bereits eine menschliche Spur, die wir in der Natur hinterlassen."

Positive Spuren hinterlassen

In Ligurien, wo Nutzungskonflikte wie in den Bergen um Innsbruck noch völlig fremd sind, baut Philipp mittlerweile neue Trails. Oder er legt alte, in Vergessenheit geratene Wege wieder frei, um sie zu befahren. Statt Schimpf und Drohungen, wie in Österreich, erhält er hier Dank für diese Arbeit. "Sogar Jäger kamen schon vorbei und haben sich bedankt, weil die Wege hier oben seit Jahrzehnten nicht mehr so gut in Schuss waren", erzählt Philipp von anfangs ungewohnten Begegnungen.

Auch das sei natürlich nicht übertragbar auf die Umstände im Ballungsraum Innsbruck oder andernorts. Aber der respektvolle Umgang miteinander sei etwas, das er in Ligurien viel öfter und bewusster erlebe als zuvor in Tirol. "Hier kannst du bei jeder Hütte anstandslos dein E-Bike laden. Man ist hier teils auch voraus", sagt der Bike-Bergsteiger. Philipps Ziel ist es, künftig vor allem positive Spuren zu hinterlassen: "Wir alle fragen uns doch, was soll irgendwann einmal von uns bleiben?" Das neue Leben in Italien, das er und Fritzenwallner sich in den vergangenen zwei Jahren aufgebaut haben, liefert ihnen täglich neue Antworten auf diese Fragen. (Steffen Arora, 11.10.2022)