Sex ohne Liebe ist etwas, das für viele vorstellbar scheint. Liebe ohne Sex dagegen kaum. Es gibt sie jedoch, die Paare, die in einer Wohngemeinschaft zusammenleben wie Freunde. Sie verstehen sich gut und mögen einander, aber schlafen nicht miteinander – manchmal seit Monaten nicht mehr, oder auch schon seit Jahren. Herbert Antonu ist Paar- und Sexualtherapeut in Wien und kennt solche Geschichten gut. Wir haben ihn gefragt: Kann ein Paar ohne Sex überhaupt glücklich sein?

STANDARD: In einer Beziehung kann vieles fehlen: die Nähe zueinander, das gegenseitige Verständnis, die gemeinsamen Interessen, die Ausgelassenheit, die Zeit füreinander. Aber es scheint, als würde nichts mehr verunsichern, als wenn der Sex fehlt. Warum ist das so?

Antonu: Keinen Sex in einer Beziehung zu haben definieren wir als nicht normal. Es ist gleichbedeutend damit, dass die Beziehung nicht gut läuft, und wer möchte sich und den anderen das eingestehen? Es bedeutet für uns, dass zwei nicht mehr attraktiv füreinander sind oder es vielleicht medizinische Gründe gibt, warum sie keinen Sex mehr haben. Es öffnet also das Tor für alle möglichen unangenehmen Spekulationen und Unterstellungen. Im Gegensatz dazu bedeutet Sex in der Beziehung für uns, dass die Partner in ihrer Attraktivität bestätigt werden. Oft ist es auch eine Bestätigung, dass die Beziehung noch gut läuft, denn würde sie ganz schlecht laufen, würden Mann und Frau schließlich nicht mehr miteinander schlafen.

STANDARD: In der Verliebtheit ist das Verlangen groß. Doch kaum hat sich ein Paar aufeinander eingelassen, wird es meist weniger. Passiert das zwangsläufig?

Antonu: Ja, und zwar dann, wenn man den anderen oder die andere etikettiert hat – also kennt. Wenn ich weiß, wie meine Partnerin, mein Partner sich während des Sex verhält, wenn der Sex nach einem Nullachtfünfzehn-Schema abläuft, dann wird er zwangsläufig weniger. Der Mensch braucht Reize und Impulse, um sich zu etwas oder jemandem hingezogen zu fühlen. Und wenn ich meine Frau oder meinen Mann seit 15 Jahren sexuell in- und auswendig kenne, kann der Reiz schwächer werden oder sogar verloren gehen.

"Wenn der Sex nach einem Nullachtfünfzehn-Schema abläuft, dann wird er zwangsläufig weniger."

Das kann man damit vergleichen, dass ein Film, der einem super gefällt, nicht mehr so spannend ist, wenn man ihn sich öfter ansieht. Egal ob es sich um Star Wars handelt oder um Vom Winde verweht: Das bleiben gute Filme, aber irgendwann kennt man sie, der Reiz nimmt ab. Sie lösen in einem nicht mehr das aus, was sie beim ersten Mal ausgelöst haben. Ebenso nimmt die Attraktivität, die mit dem Sexualpartner verbunden ist, immer mehr ab.

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Manchmal wird der Reiz weniger, aber der oder die andere ist noch ein guter Freund oder eine gute Freundin. Reicht das auf längere Sicht?
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STANDARD: Woran kann es liegen, wenn Paare viele Monate oder Jahre lang keinen Sex mehr haben? Finden sie einander nicht mehr anziehend?

Antonu: Zumindest nicht so anziehend, dass sie sich ausziehen. Es kann durchaus sein, dass er nicht mehr mit seiner Susi schläft oder sie nicht mehr mit ihrem Rudi, weil sie aus den verschiedensten Gründen nicht mehr als erotische Wesen ausreichend attraktiv füreinander sind. Der Rudi ist zwar ein guter Freund, geht mit seiner Frau laufen, schaut auf die Kinder, aber als Mann ist er für sie nicht mehr attraktiv.

Der Sex kann aber auch deshalb verloren gehen, weil das Paar lange nicht mehr über seine Sexualität gesprochen hat. Weil es peinlich ist oder kein Vertrauen da ist, wurde das Thema ausgespart. Aber: Wenn man nicht darüber spricht, wird es auch keinen Sex geben. Denn wie soll ich wissen, was meiner Frau im Bett Spaß macht, wenn ich sie nicht danach frage und sie es mir nicht von sich aus erzählt? Die eigene und gemeinsame Sexualität immer wieder weiterzuentwickeln – so wie man ja auch seine Persönlichkeit und die Beziehung weiterentwickelt – ist sehr wichtig. Tut man das nicht, darf man sich nicht wundern, warum die Sexualität Attraktivität verliert und schlussendlich einschläft. Alles, was in der Natur nicht gefördert, gepflegt oder stimuliert wird, wird irgendwann das Wachstum einstellen.

STANDARD: Welche Gründe gibt es noch?

Antonu: Es kann auch vorkommen, dass einer von beiden sich nicht mehr genug pflegt, zu selten duscht, nach Schweiß riecht und der andere sich davor ekelt. Oder es haben sich die sexuellen Bedürfnisse verändert. Ebenso können ungewöhnliche Sexualpraktiken zur Einstellung der gemeinsamen Sexualität führen. Wird Sexualität als hoher Leistungsdruck wahrgenommen, kann der Spaßfaktor wegfallen.

Bewertungen, Abwertungen oder ein verletzender, respektloser Umgang miteinander können ebenfalls Gründe sein. Ich möchte ja nicht mit jemandem Sex haben, der mir vor drei Stunden noch etwas Unhöfliches oder Verletzendes gesagt hat. Ich hatte auch einmal ein Paar bei mir, bei dem die ständigen Streits das Problem waren. Die Kränkungen aus den Konflikten haben nachgewirkt, und sie hatten keine Lust mehr aufeinander. In der Therapie schaut man sich deshalb nicht als Allererstes an, warum es im Bett nicht funktioniert – davor schaut man sich an, warum es im Wohnzimmer nicht funktioniert ...

STANDARD: Sprich: was in der Beziehung falsch läuft?

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Einige Paare kompensieren den fehlenden Sex mit einer anderen Art von Nähe – mit Kuscheln, Umarmen, Schmusen und Streicheln. Und sind damit zufrieden.
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Antonu: Genau. Die wirklichen Gründe für eine sexlose Beziehung sind auf den ersten Blick nicht immer leicht zu erkennen. Vielleicht funktioniert zwar noch das Familienleben ganz gut – die Mann-Frau-Beziehung aber nicht mehr. Vielleicht kann das Paar nicht mehr achtsam und herzlich miteinander kommunizieren, das Vertrauen ist angeschlagen, oder es sind Kränkungen passiert, und deshalb gibt es keinen Sex mehr. Oder eben, die erotische Ebene ist verloren gegangen. Man mag einander als Mensch, aber findet einander nicht mehr als Mann und Frau sexuell attraktiv.

STANDARD: Wenn es keinen Sex gibt – ist die Partnerschaft dann eigentlich eine Freundschaft?

Antonu: Eigentlich könnte man sagen, dass es eine Freundschaft ist. Ich kann den Menschen lieben, aber nicht mehr den Mann oder die Frau begehren.

STANDARD: Ist es nicht gefährlich, wenn die Partner sich denken: "Wir sind fein damit, dass da kein Sex mehr ist." Ist das nicht wie eine Resignation?

Antonu: Nicht unbedingt. Der Sex hilft uns zwar, einander nahe zu sein. Es gibt jedoch Paare, die kompensieren den fehlenden Sex mit einer anderen Art von Nähe – mit Kuscheln, Umarmen, Schmusen und Streicheln. Nähe kann auch hergestellt werden, wenn man keinen Sex hat. Viele Menschen sagen sogar, dass ihnen das mehr gibt. Weil der Sex nach so vielen Jahren eh nicht mehr lustig ist.

STANDARD: Wenn es für beide passt, gibt es also auch kein Problem – oder?

Antonu: Wenn beide wirklich 100-prozentig damit im Reinen sind, nicht. Aber das ist wirklich sehr selten. Meistens ist es so, dass es einen gibt, der weniger oder gar keinen Sex will – und der andere arrangiert sich damit. Das trifft übrigens auf Frauen wie Männer gleichermaßen zu. Solche Kompromisse gehen meiner Erfahrung nur eine gewisse Zeit gut, auf kurz oder lang kommt es zum Konflikt.

"Meistens ist es so, dass es einen gibt, der weniger oder gar keinen Sex will – und der andere arrangiert sich damit."

STANDARD: Muss ein Paar darüber reden, warum es keinen Sex mehr hat – damit das Thema nicht wie ein Elefant im Raum steht?

Antonu: Es wäre äußerst sinnvoll, wenn sie miteinander darüber reden. Wenn sie es nicht tun, sagt das sehr viel über die Tiefe und die Qualität ihrer Beziehung aus. Nicht zu reden ist ein sehr ungeschicktes Beziehungsverhalten, es ist ein Vermeidungsverhalten, hinter dem sehr oft eine Angst steckt. Und zwar die Angst, dass der Sex dann auf einmal Thema ist und dass man dann etwas unternehmen muss. Nach dem Motto: Die Geister, die ich rief, werde ich nicht mehr los.

STANDARD: Was sollte ein Paar tun, wenn sich herausstellt, dass eine Person lieber verzichtet, aber dem oder der anderen Sex doch wichtig ist?

Antonu: Entweder man arbeitet daran und schaut, warum einer nicht mehr will. Wie wir schon besprochen haben, gibt es ja für alles eine Ursache. Läuft es möglicherweise in der Frau-Mann-Beziehung nicht mehr rund? Man könnte auch fragen, ob es Missbrauch in der Kindheit gab. Oder man schaut sich an, ob jemand Sorgen hat, die eine erfüllende Sexualität verhindern, oder eine psychiatrische Erkrankung vorliegt. Es ist auch möglich, einen Hormonstatus machen zu lassen.

Eine andere Lösung wäre, dass der, dem Sex einfach nicht so wichtig ist, sagt: Ich selbst will keinen Sex mehr haben, aber du darfst dreimal im Jahr woanders hingehen.

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Probleme in der Beziehung können der Grund dafür sein, dass der Sex ausbleibt. Wenn das der Fall ist, sollte man zuerst wieder lernen, wohlwollend miteinander zu sein, sagt der Paartherapeut Herbert Antonu.
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STANDARD: Wie funktioniert so ein Arrangement?

Antonu: Es funktioniert nur dann, wenn die Basis einer Beziehung eine sehr gute ist. Das Paar muss Liebe und körperlichen Sex trennen können. Außerdem braucht es klare Spielregeln: Wie oft darf jemand andere sehen? In welchem Setting? Will man es wissen oder lieber nicht?

STANDARD: Wie lange haben Paare, die zu Ihnen kommen, schon keinen Sex mehr?

Antonu: Ein Paar hatte 27 Jahre lang keinen gemeinsamen Sex mehr. Und dann hat einer der beiden gesagt: Ich möchte wieder Sex mit dir! Man kann sich vielleicht vorstellen, wie schwierig es für die beiden war, das umzusetzen. Es ist in dieser sehr langen Zeit auch zu einer gegenseitigen körperlichen Entfremdung gekommen, und viel Scham hat sich auf beiden Seiten aufgebaut.

STANDARD: Was machen Sie mit solchen Paaren?

Antonu: Die ersten Fragen, die ich stelle, sind: Haben Sie generell keine Lust auf Sex? Oder haben sie nur keine Lust auf Ihren Partner, Ihre Partnerin? Als Nächstes schaue ich mir an, warum die Lust nicht mehr da ist. Fehlt das Vertrauen, und man kann sich deshalb nicht mehr fallen lassen? In dem ersten Drittel so einer Sexualtherapie geht es nicht um Sex, sondern um die Beziehung. Es geht darum, welches Bild man im Kopf voneinander hat, wer die Machtposition in der Beziehung hat, wie konfliktfähig das Paar ist, wie mit Scham umgegangen wird. Es geht auch darum, welches Verständnis jeder von Sexualität und Intimität hat.

STANDARD: Was kann ein Paar tun, um wieder mehr Sex zu haben?

Antonu: Sie sollten sich mit ihrer Beziehungsdynamik beschäftigen. Was sind die jeweiligen sexuellen Erwartungen an sich und an den anderen? Welche Kränkungen trennen uns? Damit sollte man beginnen, denn Sex ist eine Vertrauenssache. Wenn man wieder ein liebevolles Miteinander gefunden hat, wieder wohlwollend miteinander ist, sich als Menschen und als Mann und Frau wieder nähergekommen ist, wenn man wieder attraktiv füreinander ist, dann kann man ins Schlafzimmer gehen. Dort kann man einander streicheln und sich langsam wieder an die eigene und an die Intimität des Gegenübers herantasten und gewöhnen.

"Wenn man wieder ein liebevolles Miteinander gefunden hat, dann kann man ins Schlafzimmer gehen."

Bei Paaren, die lange keinen Sex mehr hatten, ist es wie bei einer Software, die von einem Virus befallen ist. Was würde man da machen? Man würde die Software herunterfahren, deinstallieren, das Programm neu aufsetzen und anschließend wieder hochfahren. Analog dazu muss man auch bei der Sexualität wieder ganz von vorne beginnen mit Nähe und Umarmungen, mit schönen Worten und vor allem mit Herz und erotischen Fantasien. Man lernt einander wieder neu kennen und wird so wieder attraktiv und reizvoll füreinander.(Lisa Breit, 15.10.2022)