Die Webcam im Homeoffice ständig laufen zu lassen ist laut dem Provinzgericht Zeeland-West Brabant eine unverhältnismäßige Vorgabe, die gegen Artikel 8 der Menschenrechtskonvention verstößt.

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Die vergangenen Jahre haben aufgrund der Coronavirus-Pandemie auch Spuren in der Arbeitswelt hinterlassen. Bürojobs werden nun oft ganz oder teilweise aus dem Homeoffice erledigt. Für viele Arbeitnehmer überwiegen die Vorteile des Arbeitens von daheim die Nachteile.

Es sei denn, ihr Unternehmen misstraut ihnen. Wie etwa im Fall von Chetu, einem Softwarestudio aus Florida, das aber Mitarbeiter rund um die Welt beschäftigt. Die Firma geriet in einen Clinch mit einem Marketingmitarbeiter aus den Niederlanden, der sich weigerte, im Rahmen eines Trainings ständig die Webcam eingeschaltet zu lassen, berichtet "NL Times".

"Fühle mich nicht wohl, neun Stunden beobachtet zu werden"

Laut den Gerichtsunterlagen hatte der Mann Anfang 2019 für Chetu zu arbeiten begonnen und mit Provisionen insgesamt über 70.000 Euro pro Jahr verdient. Am 23. August wurde er zur Teilnahme an einem verpflichtenden Onlinetrainingskurs, "Corrective Action Program", verpflichtet. Vorgabe dafür war zudem, dass er den ganzen Arbeitstag über Screensharing aktiviert und die Webcam eingeschaltet lassen muss. Dem kam er allerdings nicht nach.

Zwei Tage später schrieb er seinem Arbeitgeber, dass er mit der Webcam-Pflicht nicht einverstanden sei. "Ich fühle mich nicht wohl, neun Stunden pro Tag von einer Kamera beobachtet zu werden. Das ist eine Verletzung meiner Privatsphäre und der Grund, warum die Kamera nicht eingeschaltet ist. Sie können bereits alle meine Aktivitäten auf meinem Laptop nachverfolgen, und das Screensharing ist eingeschaltet."

Chetu zeigte für diese Position allerdings kein Verständnis und entließ ihn fristlos am 26. August unter dem Vorwurf des Ungehorsams und der Arbeitsverweigerung. Der Mitarbeiter ließ das nicht auf sich sitzen und reichte Klage ein, da er die Entlassung als ungerechtfertigt ansah und der Ansicht war, dass die Vorgabe der Firma nicht mit geltender Datenschutzgesetzgebung vereinbar sei.

Gericht argumentiert mit Menschenrechtskonvention

Während er in Florida kaum eine Chance hätte, die Entlassung zu beanspruchen, da es sich um einen US-Bundesstaat mit "At will"-Regelung handelt, setzte er sich in seiner Heimat erfolgreich durch. Das Provinzgericht für Zeeland-West Brabant attestierte ein Fehlen einer klaren Begründung für die Entlassung. Das Deaktivieren der Webcam könne nicht als Arbeitsverweigerung gedeutet werden, und auch wenn man davon ausgehe, dass Chetu die Aufnahmen der Webcam nicht speichere, sei eine Verpflichtung, sie ständig laufen zu lassen, eine Verletzung der Privatsphäre.

Chetu, das Unterlagen übermittelt, zur Verhandlung aber keinen Vertreter geschickt hatte, hatte in einer Stellungnahme das Arbeiten vor eingeschalteter Webcam mit dem Arbeiten in einem Büro unter der persönlichen Supervision eines Vorgesetzten verglichen. Dem hielt das Gericht Artikel 8 (Recht auf Privatsphäre) der Menschenrechtskonvention entgegen. Dieser bedinge strenge Vorgaben, wenn es um die Mitarbeiterüberwachung geht. Es sei unverhältnismäßig, zu fordern, dass die Webcam ständig läuft.

Rund 75.000 Euro Strafzahlung

In dem schon Ende September gefällten und vor wenigen Tagen veröffentlichten Urteil wurde Chetu nun zu einer Reihe von Zahlungen verpflichtet. Dem Entlassenen wurden 50.000 Euro als Entschädigung zugesprochen, weiters 9.500 Euro als Unterstützungsleistung für den Jobwechsel, 8.375 Euro für die ungerechtfertigte Entlassung sowie 2.700 Euro für entfallenes Salär. Dazu kommen noch nicht bezifferte Ausgleichszahlungen für 23 offene Urlaubstage. Ebenso muss das Unternehmen seine Gerichtskosten in der Höhe von 585 Euro übernehmen.

Beide Parteien haben ab Urteilsverkündung drei Monate Zeit, um in Berufung zu gehen. Bemerkenswert ist allerdings, dass Chetu seinen regionalen Ableger einige Tage nach der Entlassung des Mitarbeiters aus dem Handelsregister genommen und zugesperrt hat. (red, 11.10.2022)