Frankreich feiert Annie Ernaux, die "Jerusalem Post" kritisiert.

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Dass Annie Ernaux eine engagierte Linke ist, wird niemanden überraschen, der ihre Bücher kennt. Aus der Erfahrung, in die Arbeiterklasse geboren worden zu sein, schöpft die mittlerweile zur besseren Pariser Gesellschaft gehörende Autorin. Das klang auch an, als sie vergangenen Donnerstagabend in ihrem Verlag Gallimard vor der Presse den Nobelpreis kommentierte. Schnell wurde sie politisch.

Als Kind habe sie die Bomben des Zweiten Weltkriegs miterlebt, solche fielen auch jetzt wieder in Europa, sprach sie etwa Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine an. Man dürfe aber nicht vergessen, dass auch an vielen anderen Orten der Welt Krieg herrsche. Sie beklagte die Einschränkungen der Möglichkeiten für Frauen in den USA, abzutreiben, bekundete Unterstützung für die im Iran protestierenden Frauen und zeigte sich bekümmert über in Europa erstarkende rechte Parteien. Angesichts der hohen Lebenshaltungskosten rief sie dieses Wochenende mit weiteren französischen Intellektuellen zur Teilnahme an Protesten auf.

In Deutschland konzentriert man sich auf einen anderen Aspekt der politischen Figur Annie Ernaux. Die Jerusalem Post wies gleich nach Bekanntgabe des Nobelpreises darauf hin, dass die Autorin in der Vergangenheit mehrmals Briefe der israelkritischen, von manchen aber auch als antisemitisch eingestuften Kampagne BDS (Boykott, Divestment, Sanctions) unterzeichnet habe.

Künstler in der Kritik

Wegen der Nähe zu der sich laut eigenem Bekunden für "Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit" für Palästinenser einsetzenden Kampagne sind in den letzten Jahren zahlreiche Künstler und Intellektuelle in die Kritik geraten. Roger Waters von Pink Floyd unterstützt sie ebenso wie die Philosophin Judith Butler. Manche Stimmen mögen antisemitisch sein, doch beileibe nicht alle. Im englischsprachigen Raum sieht man BDS weniger kritisch als in Deutschland, wo die Bewegung sogar vom Bundestag als antisemitisch eingestuft wird. In Österreich stuft der Nationalrat BDS seit dem Jahr 2020 ebenso als antisemitisch ein.

Die Jerusalem Post listete auf: 2019 habe Ernaux Aufrufe zum Boykott des in Tel Aviv ausgetragenen Eurovision Song Contest mitgetragen. In einem anderen Brief habe sie gemeinsam mit 80 weiteren Künstlern ein Projekt zum israelisch-französischen Kulturaustausch als Versuch Israels kritisiert, sein Image "weißzuwaschen". 2021 habe sie einen Brief unterschrieben, der israelische Angriffe gegen Palästinenser und Gaza aufliste, ohne aber auf die Raketen zu verweisen, die umgekehrt vom Gazastreifen nach Israel gefeuert würden, und in dem es heiße: "Israel ist die Kolonialmacht, Palästina wird kolonisiert. Das ist Apartheid."

Ernaux’ Sympathien für BDS sind nicht neu. In Frankreichs Medien war ihr Engagement bisher kein Thema. In Deutschland hingegen wurde der Bericht der Jerusalem Post am Wochenende breit aufgegriffen.

"Dunkle Seite"

Während die Bild aufgeregt mit "Die dunkle Seite der Literatur-Nobelpreisträgerin"titelte, wussten aber weder Frankfurter Allgemeine noch die Süddeutsche Zeitung Skandalöses aus dem BDS-Engagement abzuleiten. Ernaux’ Haltung sei nicht antisemitisch, verteidigt die SZ die Autorin. Wiewohl: "Ihre Positionen sind viel unbequemer, als man rechts des Rheins denken und links des Rheins sagen mag." (FAZ)

Letzterer Halbsatz sagt vielleicht mehr über die deutsche Haltung aus als über etwaige antisemitische Untertöne. Dass man sich hier schwertut, Israelkritik von Antisemitismus zu trennen, haben soeben wieder die Antisemitismusdiskussionen um die Documenta in Kassel gezeigt.

Ernaux’ Kritik an Israel ist eine Kritik am Staat Israel als politischem Akteur. Sie gleicht damit der Kritik, die die Autorin entsprechend ihrer Sozialisierung und ihrer Parteinahme für Benachteiligte und Unterdrückte auch an anderen politischen Akteuren übt. Etwa wenn sie die Gelbwestenproteste befürwortet, bei der Präsidentschaftswahl im Frühjahr den (die EU ablehnenden) Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon unterstützte oder Präsident Emmanuel Macron kritisiert, er vergrößere mit seiner Politik in der gegenwärtigen Krise nur das Wohlstandsgefälle. (Michael Wurmitzer, 10.10.2022)