Die Geschichte beginnt mit den Tränen der Anna Wintour. Am Abend zuvor hat die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton die Wahl gegen Trump verloren, Versammlung der betretenen, überarbeiteten Belegschaft im New Yorker Büro. Die als eiskalt geltende "Vogue"-Chefin, sie zeigt plötzlich Emotionen. Für Anna Wintour fühlt sich Clintons Niederlage am 9. November 2016 offenbar wie ihre eigene an: Wintour hatte die Kandidatin aktiv unterstützt.

Doch es geht auf den ersten Seiten des Buches von "Anna Wintour – Aus dem Leben einer Modeikone" nicht nur um das politische Engagement der Chefredakteurin, es geht auch ins Detail: Anna Wintour trägt an jenem Tag "hohe Schlangenlederstiefel und ein bedrucktes Kleid", zuvor hat sie wie immer um halb sechs am Morgen trainiert, sich professionell frisieren und von drei Assistentinnen einen Vollmilch-Latte und einen Blaubeermuffin von Starbucks servieren lassen. Die US-amerikanische Journalistin Amy Odell schildert jenen Vormittag im Plauderton – und ganz so, als sei sie dabei gewesen.

Recherche

Das war nicht der Fall, die Autorin spielt vor allem ihre umfangreiche Recherche aus. Sie hat sich einer der wohl sagenumwobensten, verschwiegensten, mächtigsten und zugleich umstrittensten Figuren der Modeindustrie mithilfe von 250 Quellen genähert. Mit Odell zu sprechen, lehnte Wintour ab, dafür vermittelte sie nicht uneigennützig Kontakte von Kollegen und Freunden. Auch sie haben ausführlich geredet, es werden auf den 370 Seiten jede Menge smalltalktaugliche Geschichten zu jener Frau ausgeplaudert, die die Öffentlichkeit spätestens seit der Verfilmung "Der Teufel trägt Prada" mit Meryl Streep zu kennen meint.

Sie erzählen von der privilegierten Herkunft der 1949 in London geborenen Anna Wintour, ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Vater Charles, dem Chefredakteur des "London Evening Standard", den ersten Fotoshootings, den wechselnden Liebhabern, Wintours Ehrgeiz, Disziplin und ökonomischer Arbeitsweise, ihrem Instinkt für den Zeitgeist, ihrer Karriere vom "New York Magazine" über die britische "Vogue" bis hin zum Chefsessel der US-"Vogue" und ihrem aktuellen Titel "Global Chief Content Officer" beim Verlag Condé Nast. Odell nähert sich Anna Wintour in Form einer detailverliebten Anekdotensammlung. Zwar werden hier und da pflichtbewusst kritische Anmerkungen gemacht, doch etwas mehr Distanz der Autorin zur Modebranche hätte dem Buch gutgetan.

Vielleicht hätte die 72-jährige Wintour die Dinge selbst in die Hand nehmen sollen. So wie Edward Enninful, ihr derzeit größter Konkurrent im Verlag. Im September erschien die Autobiografie des Chefs der britischen "Vogue". Sie heißt "A Visible Man" und dürfte ohne weiteres als Bewerbung für den Chefsessel in New York verstanden werden. (Anne Feldkamp, RONDO, 9.11.2022)

Amy Odell, "Aus dem Leben einer Modeikone", 432 Seiten, Riva, 24 Euro
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