Wenn Kristalina Georgiewa die Titelseiten US-amerikanischer Zeitungen schmückt und von CNN ausführlich zitiert wird, ist das kein gutes Zeichen für die Weltwirtschaft. Die gebürtige bulgarische Ökonomin leitet seit 2019 den Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington, und es lässt sich getrost behaupten, dass US-amerikanische Medien sich um den Fonds im Regelfall wenig scheren. Auch wenn der IWF seinen Sitz in Washington hat, geht es bei der multilateralen Organisation um die Belange von 189 Mitgliedsländern. Für ein US-Publikum schwer vermittelbar.

Doch heuer ist etwas anders. Eine globale Inflationskrise, der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise in Europa sorgen dafür, dass der diesjährigen Jahrestagung des IWF und der Weltbank in Washington selbst in den USA ein größeres Interesse entgegengebracht wird. Fast 200 Finanzminister und Vertreter von Notenbanken aus der ganzen Welt treffen sich diese Woche in der US-Hauptstadt, um über den Zustand der Weltwirtschaft zu beraten. Dabei stehen einige kontrovers diskutierte Fragen im Vordergrund: Wie konnte es etwa passieren, dass Experten weltweit die Inflationsentwicklung der vergangenen Monate derart unterschätzt haben, und wie lässt sich das noch einmal verhindern?

Dazu haben zwei Experten des IWF und der Ökonom Laurence Ball von der Johns Hopkins University ein in Washington vieldiskutiertes Paper veröffentlicht. Bisher galt als ein Pfeiler ökonomischer Theorie, dass Inflation und Arbeitslosigkeit in einer direkten Verbindung stehen. Wenn Arbeitslosigkeit sinkt, steigt die Inflation, und umgekehrt, so die Theorie. Doch spätestens seit der Pandemie besteht dieser klare Zusammenhang nicht mehr, argumentieren die drei Ökonomen in ihrem Paper. Obwohl in den USA die Arbeitslosigkeit noch nicht unter das Niveau von vor Corona gesunken ist, ist die Inflation auf einen Rekordwert gestiegen. Allein mit dem Anstieg der Energiepreise und den Problemen bei Lieferketten könne diese Entwicklung nicht erklärt werden.

Offene Stellen entscheidender als Arbeitslosenzahlen

Das Rätsels Lösung: Es gelingt am Arbeitsmarkt nicht mehr so gut wie in der Vergangenheit, offene Stellen mit Jobsuchenden zu besetzen – warum, ist nicht ganz klar. Obwohl die Arbeitslosigkeit gar nicht so sehr sinkt, herrscht am Arbeitsmarkt große Knappheit, was eben die Zahl der vielen offenen Stellen erklärt. Die Knappheit an geeigneten Mitarbeitern habe in den USA dazu geführt, dass am Arbeitsmarkt die Löhne stärker als erwartet gestiegen sind.

Unternehmen haben diese Kosten weitergegeben, was die Inflation zusätzlich befeuerte. Genau dieser Faktor wurde aber von den meisten Ökonomen übersehen, weil diese nur die Arbeitslosenzahlen im Fokus hatten. Die große Frage in den kommenden Monaten wird demnach sein, was geschieht, wenn Notenbanken ihre Zinsen anheben: Wird die Zahl der offenen Stellen fallen und das allein schon reichen, um die Inflation einzudämmen, oder lösen die Notenbanken mit ihren Zinsanhebungen eine echte Krise am Jobmarkt aus?

Keine guten Nachrichten hat IWF-Chefin Kristalina Georgiewa.
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Die Krise, auch das eine These bei der Jahrestagung, wird aber ohnehin dramatischer werden, ehe vielleicht Entspannung kommt. Am Dienstag haben die Experten des Fonds schon ihre neue Prognose für die Weltwirtschaft vorgestellt, und diese ist eine Ansammlung von düsteren Prophezeiungen. Das Wachstum hat sich bereits deutlich abgekühlt, und dieser Trend soll 2023 anhalten. Dabei soll die Weltwirtschaft im kommenden Jahr um 2,7 Prozent wachsen, nach 3,2 Prozent heuer.

Energiekrise und Zero Covid in China belasten

Das klingt auf ersten Blick nicht sehr dramatisch, doch hinter der Zahl verbergen sich große Unterschiede: So werden bis zum Ende des kommenden Jahres so viele Länder in eine Rezession rutschen, also in zwei aufeinanderfolgende Quartale mit negativem Wachstum, sodass die Rezession ein Drittel der globalen Wirtschaftsleistung erfasst. In der Eurozone wird ein Minus in Deutschland und Italien erwartet. "Das Schlimmste steht bevor", sagte der IWF-Chefökonom Pierre-Olivier Gourinchas am Dienstag.

Für Österreich sagt der Fonds im kommenden Jahr ein Wachstum von einem Prozent voraus. Die USA, die sich aktuell in einer Rezession befinden, dürften im kommenden Jahr nur ein minimales Wachstum verzeichnen, in China ist die Entwicklung des BIP aktuell so schwach wie seit 40 Jahren nicht mehr. Für das Jahr darauf ist nur moderate Besserung zu erwarten. Was steckt hinter dieser Entwicklung?

Offene Stellen gibt es genug, in den USA wie in Europa. Doch wegen der hohen Inflation wird für viele das Auskommen schwieriger. Im Bild: ein Streik von Mitarbeitern des Flughafens in San Francisco.
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Die Energiekrise in Europa, die den Kontinent ärmer macht. Der IWF rechnet damit, dass diese Krise noch lange erhalten bleiben wird. Werde der heurige Winter "herausfordernd", so könnte der nächste noch schwieriger werden, so der Fonds, weil selbst dann, wenn russisches Gas weiterhin kommt, die Energiepreise hoch bleiben werden. Viele Haushalte stellt das finanziell vor eine enorme Belastungsprobe. Ebenfalls auf der Weltwirtschaft lastet die Zero-Covid-Politik Chinas. Der Währungsfonds schätzt, dass wegen der ständigen Lockdowns in China gerade einmal 75 Prozent der Industriekapazität des Landes genutzt werden. Die Nachfrage ebenfalls negativ beeinflussen werden die Zinserhöhungen der Notenbanken.

Aber, und hier dürfe es kein Zögern gebe, so der IWF-Chefökonom Gourinchas: Die Notenbanken müssen mehr tun, um die Inflation in den Griff zu bekommen, sprich aggressiv ihre Zinsen anheben. Das gehe zwar mit einem Risiko für Weltwirtschaft einher, weil damit das Wachstum ganz abgewürgt werden könne. Aber die Gefahr, die Inflation wieder zu unterschätzen, sei die größere, so der IWF, "weil damit die Notenbanken ihre hart erkämpfe Glaubwürdigkeit" gefährden würden.

Der Fonds erwartet dennoch, dass die Inflation länger hoch bleiben wird, und hat seine Erwartungen hinaufkorrigiert. Die Inflation soll in der Eurozone heuer übers Jahr gerechnet bei 8,3 Prozent liegen und im kommenden Jahr immer noch 5,3 Prozent betragen. Und: Die Teuerung wird immer breiter, ist nicht mehr allein von Energie und Lebensmitteln getrieben.

Neue Wirtschaftsordnung?

Hitzig diskutiert wird in Washington noch etwas, dem Ökonomen in Österreich kaum Aufmerksamkeit widmen: Wie wirkt es sich auf die Teuerung aus, wenn Notenbanken die Zinsen erhöhen, während Staaten Milliardenprogramme auflegen, um Haushalte zu unterstützen? Der IWF fordert Zurückhaltung, Hilfe nur gezielt bedürftigen Haushalten zu leisten. Der Fonds warnt vor Preisbremsen und pauschalen Energiezuschüssen. Denn das würde das Problem knapper Energie nicht lösen, sondern die Inflationskrise nur verlängern und die Haushalte der Staaten belasten.

Atsi Sheth, Managing Director bei Moody's in New York, sprach am Rande der Tagung davon, dass die Politik der Notenbanken mit ihren Zinserhöhungen und der Regierungen in Europa mit ihren ständigen Mehrausgaben wegen der Inflation sich völlig widerspricht. Ebenfalls im Fokus steht die Frage, wie sehr die aktuelle Wirtschaftslage eine Zeitenwende darstellt.

In den vergangenen Jahren haben Notenbanken in jeder Wirtschaftslaute ausgeholfen – aktuell verschärft ihre Politik jedoch diese Flaute. Schließlich geht um die Sanktionen gegen Russland, die G7-Finanzminister treiben ein neues Sanktionspaket gegen russisches Öl voran. Für Russland erwartet der IWF heuer eine Rezession mit einem Wirtschaftseinbruch um 3,4 Prozent. Für Russland fällt der Einbruch damit wesentlich glimpflicher aus als noch im April prognostiziert. Damals rechnete der IWF mit einem Rückgang der russischen Wirtschaft um mehr als acht Prozent. Die Ukraine hingegen soll heuer infolge des russischen Angriffskriegs ein Drittel ihrer Wirtschaftsleistung verlieren. (András Szigetvari, 11.10.2022)