Ein Russe kommt am Flughafen in Eriwan an. Auch nach der Teilmobilmachung verlassen Reservisten das Land.

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"Ich habe Russland verlassen und bin in den ersten Tagen im März nach Jerewan gekommen, weil ich gegen die Haltung unserer Behörden bei der Durchführung der Spezialoperation in der Ukraine bin", sagt Iwan Petrow, 30-jähriger Programmierer aus der russischen Stadt Krasnodar. Die 43-jährige Tatjana Alexandrowna aus Moskau, auch sie IT-Spezialistin, ist zusammen mit ihrem Sohn ausgewandert. "Wir sind vier Tage nach dem Beginn der Spezialoperation ausgeflogen. Ich hatte große Angst um meinen Sohn, er ist für mich alles im Leben. Ich bin eine alleinerziehende Mutter und hatte Angst vor seiner Einberufung in die Armee."

Russland erlebt derzeit einen beispiellosen Braindrain. Die Migrationsforscherin Olga Gulina schätzte bereits vor der Teilmobilmachung Putins am 21. September, dass schon 200.000 hochqualifizierte Fachkräfte ihrer Heimat den Rücken gekehrt haben. "Russland wird von seinen buchstäblich besten Köpfen verlassen – von der akademischen Elite über IT-Spezialisten, Journalisten, politische und ökologische Aktivisten bis hin zu anderen qualifizierten Fachkräften", so Galina. "Bei der Abwanderung handelt es sich nicht nur um einen Exodus von Menschen, sondern auch um einen Abfluss von Ideen, Unternehmen und Zukunftspotenzial."

Die Abwanderung hat schon mit Kriegsbeginn angefangen. Seit dem Befehl zur Teilmobilmachung Ende September müssen sich Russen im wehrpflichtigen Alter laut Gesetz an ihrem Wohnort aufhalten. Trotzdem flüchten auch Reservisten aus dem Land.

Neue Heimat in Armenien

Petrow und Alexandrowna zählen zu den rund 80.000 Hochqualifizierten, die in Armenien eine neue Heimat gefunden haben. "Es war sehr schwierig und traurig, meine Umgebung, die Menschen, mit denen ich über Jahrzehnte gelebt habe, zu verlassen. Doch in Jerewan habe ich gute Bekannte, Kollegen, die mir geholfen haben, mich schnell anzupassen. Im Allgemeinen sind die Menschen hier nett, freundlich, es gibt keine Sprachprobleme", erzählt Petrow. Fast alle Armenier verstehen Russisch, Auswanderer aus Russland brauchen kein Visum, nach drei Monaten muss man sich lediglich bei der Polizei anmelden. Und die Steuer ist auch niedrig. Nur fünf Prozent ihres Einkommens zahlen Einzelunternehmer wie die meisten freiberuflichen IT-Spezialisten.

Für Petrow ist Armenien allerdings nicht das pure Paradies. Der Streit mit Aserbaidschan um die Region Bergkarabach löst seit Jahren immer wieder Kämpfe aus. Bei den jüngsten Gefechten wurden 150 Menschen auf beiden Seiten getötet. Seit ein paar Tagen herrscht ein Waffenstillstand. Petrow macht das nachdenklich. "Die Situation um den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan verwirrt mich. Das ist anstrengend. Ich möchte nicht einen Krieg vermeiden, um in einen anderen zu gelangen."

Doch erst einmal will Petrow bleiben. Genau wie Alexandrowna. "Ich war oft in Europa, habe viele Hauptstädte besucht, deshalb kann ich sagen, dass Jerewan eine der schönsten Städte der Welt ist", sagt sie. "Die Küche hier ist sehr gut, so viel tolles Gemüse und Obst wie hier habe ich nirgendwo gesehen. Die Armenier selbst sind offen, kontaktfreudig. Wir fühlen uns hier wohl."

Flüge ausgebucht

Der 50-jährige IT-Manager Konstantin Below ist wenige Tage nach Beginn der Kämpfe in der Ukraine nach Armenien gegangen. Schwierig für ihn war nur die Ausreise aus Russland. Bargeld darf man nur begrenzt mitnehmen, doch die russische Kreditkarte funktioniert in Armenien. Geld sei kein Problem gewesen, sagt Below. Problematisch sei der Flug gewesen. "Zu normalen Zeiten kommen sieben Flüge pro Tag aus Moskau hierher. Dann wurde die Zahl der Flüge drastisch reduziert, und mein Flugticket war weg. Ich musste ein Ticket nach Kasachstan kaufen und von dort nach Jerewan fliegen."

Below fand einen Job bei einer russischen Firma, die eine Niederlassung in der Stadt hat. Schon bald hatte er eine eigene Wohnung. "Jerewan ist wie eine gute europäische Stadt mit einer angenehmen Umgebung." Doch ein Problem gibt es schon, sagt er: "Es gibt viele Radfahrer hier, aber sie fahren chaotisch. Es gibt keine markierten Radwege. Und viele streunende Hunde."

Werben um IT-Fachkräfte

Nicht nur Länder wie Armenien, Usbekistan, Kasachstan, die Türkei und Georgien werben um die Auswanderer aus der IT-Branche. Auch die EU ist durchaus interessiert an russischen Fachkräften. Die deutsche Bundesregierung hat im April eine Taskforce "Russische Fachkräfte" eingerichtet. "Make it in Germany!" nennt sich ein Portal für Spezialisten aus dem Ausland. Es informiert speziell Fachkräfte aus Russland, "wie sie ihren Weg nach Deutschland erfolgreich gestalten können". Doch das ist gar nicht so einfach. Um in der EU zu leben und zu arbeiten, braucht man ein Visum und eine Arbeitsgenehmigung. Also doch lieber Armenien.

Die Abwanderung hochqualifizierter Fachkräfte trifft die russische Wirtschaft zunehmend, vor allem den IT-Bereich. Der Kreml ist alarmiert. Es soll Maßnahmen zur Unterstützung der IT-Branche geben, Steuererleichterungen und bessere Darlehenskonditionen für IT-Unternehmen und Softwareentwickler. Theocharis Grigoriadis, Wirtschaftswissenschafter an der FU Berlin, geht nicht davon aus, dass das die Menschen zum Bleiben bewegt. "Ich denke, Putin ist überhaupt nicht mehr in der Lage, diese Leute zu behalten", sagt Grigoriadis zu ntv.de.

Iwan Petrow will nicht mehr zurück nach Russland. Und auch Tatjana Alexandrowna will in Jerewan bleiben. Zumindest fürs Erste. "Wie sehe ich unsere Zukunft? Der Krieg wird enden, obwohl ich nicht denke, dass das bald sein wird. Meine Eltern haben uns schon besucht, und es hat ihnen hier sehr gut gefallen." (Jo Angerer aus Jerewan, 12.10.2022)