Es gibt derzeit keine Anzeichen für eine Finanzkrise. Der Grund dafür könnte sein, dass die Inflation den realen Wert der Staatsschulden senkt, sagt Daniel Gros, Wirtschaftswissenschafter und Fellow am Brüsseler Thinktank CEPS, im Gastkommentar.

2022 ist ein Jahr vieler Krisen, aber zumindest bisher keines einer Finanzkrise.
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Die Notenbanken sind geschäftig dabei, ihre Geldpolitik, so schnell sie können, zu straffen. Selbst die normalerweise vorsichtige Europäische Zentralbank hat ihren Leitzins um beispiellose 75 Basispunkte angehoben und damit einen früheren Schritt der US Federal Reserve nachvollzogen. Die Finanzmärkte haben auf diese Maßnahmen auf erwartbare Weise reagiert; die Aktienmärkte und die Kurse langfristiger Anleihen brechen ein. Doch bedeutet nichts davon, dass eine Finanzkrise unmittelbar bevorsteht.

Man könnte angesichts des Cocktails aus Ukraine-Krieg, explodierenden Energiepreisen und steil steigender Inflation das Gegenteil folgern, insbesondere da die Schuldenstände heute viel höher sind als im Vorfeld der letzten Finanzkrise. In den USA hat sich die Gesamtverschuldung der Kapitalgesellschaften außerhalb des Finanzsektors im Laufe des letzten Jahrzehnts auf zwölf Billionen US-Dollar verdoppelt, und die Bruttostaatsverschuldung hat gerade erstmals die Marke von 31 Billionen US-Dollar überschritten.

Damit stehen die USA durchaus nicht allein da. Aufgrund der Covid-19-Rezession hat die Staatsverschuldung fast überall zugenommen. In den hochentwickelten Volkswirtschaften ist sie um durchschnittlich 20 Prozentpunkte auf über 120 Prozent vom BIP gestiegen. Die Voraussetzungen für eine Finanzkrise sind daher erfüllt. Bisher jedoch war die Marktvolatilität begrenzt. Warum verläuft die Entwicklung diesmal anders?

Plausibles Szenario

Im Jahr 2007 erlitten die Kreditnehmer gleich zwei harte Schläge: einen Anstieg der Risikoaufschläge (der es sehr schwierig machte, Schulden zu refinanzieren) und die niedrige Inflation (die die Einnahmen der Schuldner verringerte, was den Schuldendienst behinderte und die Risikoaversion der Kreditgeber bekräftigte). Heute dagegen ist die Inflation stark gestiegen, was den realen Wert der Schulden verringert.

Wenn sich das Preisniveau um 15 Prozent erhöht, fällt der reale Wert der von einem Land mit einer Schuldenquote von 120 Prozent begebenen Schuldtitel um rund 18 Prozentpunkte vom BIP, was die von der Pandemie hervorgerufene Erhöhung um 20 Punkte fast völlig ausgleichen würde. Dies ist ein plausibles Szenario: Die Inflation beläuft sich in den USA und im Euroraum schon jetzt auf zehn Prozent, und für das kommende Jahr wird ein Preisanstieg um weitere fünf Prozent erwartet. Während der Gewinn für die Regierungen mit Verlusten für die Sparerinnen und Sparer einhergeht, die im Laufe des vergangenen Jahrzehnts langfristige Staatsanleihen zu ultraniedrigen Zinsen gekauft haben, lässt sich wenig tun, um dies auszugleichen.

Der "Schneeballeffekt"

Es hilft zudem, dass die Inflation trotz der jüngsten Maßnahmen der Notenbanken viel höher bleibt als die Zinsen. Selbst nach der von den Märkten bereits eingepreisten Straffung der Geldpolitik können Regierungen und Unternehmen neue Schulden zu negativen Realzinsen aufnehmen. Dies macht eine neue Schuldenkrise wie die, die den Euroraum 2009 in ihrem Griff hatte, unwahrscheinlich.

Die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen ist erheblich vom "Schneeballeffekt" abhängig: Übersteigen die Zinskosten das nominale BIP-Wachstum, steigt die Schuldenquote (und umgekehrt). Für Italien überstiegen die Zinskosten während der Eurokrise 2012 das nominale BIP-Wachstum um sieben Prozentpunkte vom BIP, und 2013 um 5,7 Punkte. Dies machte es dem Land nahezu unmöglich, seine Schuldenquote zu senken.

Heute wird erwartet, dass das nominale Wachstum dank der Inflation um 4,5 Prozentpunkte über den Zinskosten verharren wird. Dies wird dazu beitragen, die Schuldenquote zu senken. Tatsächlich ist die Differenz zwischen nominalem Wachstum und Zinskosten derzeit günstiger als zu jedem anderen Zeitpunkt der jüngsten Vergangenheit. Dies erklärt zu einem großen Teil, warum die Finanzmärkte sich derzeit nicht im Krisenmodus befinden. Doch heißt es nicht, dass sie nicht nervös sind. Die jüngsten Marktturbulenzen im Vereinigten Königreich zeigen dies beispielhaft.

Beispiel Großbritannien

Auf den ersten Blick könnten die vom britischen Regierungsvorschlag der nicht gegenfinanzierten Steuersenkungen ausgelösten Turbulenzen an den Finanzmärkten überraschen. Schließlich handelt es sich hier um ein Land mit AA-Rating mit hoher, aber tragfähiger Staatsverschuldung, die nicht durch ein paar Jahre mit hohen Haushaltsdefiziten untragbar würde. Doch waren Zweifel über die Tragbarkeit der Schulden nicht das Problem.

Viele britische Pensionskassen hatten in Derivate investiert, um den Risiken wilder Kursschwankungen bei Staatsanleihen zu entgehen. Aber derartige Kontrakte erfordern Sicherheiten. Als die Vermögenspreise fielen, stieg die Höhe der Sicherheiten, die die Pensionskassen brauchten, um ihre Verpflichtungen abzudecken, und sie waren daher gezwungen, Vermögenswerte (britische Staatsanleihen) zu veräußern und ihre Barbestände zu erhöhen. Dies trieb die Kurse weiter nach unten und erhöhte so den Bedarf an Sicherheiten zusätzlich.

"Kein Vorbote einer umfassenderen Krise."

Doch spiegelten die britischen Finanzturbulenzen ein vorübergehendes Liquiditätsproblem wider, das die Bank von England durch ein neues Programm zum Ankauf von Anleihen unter Kontrolle brachte. Sie waren kein Vorbote einer umfassenderen Krise. Ihr Auslöser waren Besonderheiten des britischen Finanzmarktes – insbesondere die Sicherungsstrategien der Pensionskassen.

Die Lehren daraus

Trotzdem bergen diese Turbulenzen wichtige Lehren. Erstens sind Finanzmärkte komplexe Systeme, die zu unvorhersehbaren Krisen neigen. Zweitens haben die Notenbanken, indem sie sich zum größten Käufer von Staatsanleihen entwickelt und Anleger, die zur Stabilisierung des Systems beitragen könnten, verdrängt haben, die Resilienz des Marktes für derartige Anleihen beschädigt. Trotzdem scheint eine Instabilität der Finanzmärkte im Moment kein ernsthafter Anlass zur Besorgnis zu sein.

Doch garantiert dies nicht, dass wir in ruhigen Fahrwassern bleiben werden. Während hochverschuldete Länder wie Italien und die USA stark von der überraschenden Inflation profitiert haben, sind die Schuldenrisiken dadurch nicht verschwunden. Diese Länder sollten die unerwarteten inflationsbedingten Gewinne als Gelegenheit ansehen, ihre Schulden weiter zu reduzieren. Allerdings: Hätten diese Länder politische Systeme, die jene Art vorausschauenden Handelns hervorbrächten, hätten ihre Schulden gar nicht erst ein derart hohes Niveau erreicht. Der einzige Weg, langfristig für Stabilität zu sorgen, besteht darin sicherzustellen, dass die Entwicklung diesmal auch in der Politik anders abläuft. (Daniel Gros, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 13.10.2022)