"Natürlich sind Waffen beängstigend. Aber wenn man weiß, wie sie funktionieren, hat man weniger Angst", sagt Mariam. Die junge Lehrerin bereitet sich auf einen Krieg Armeniens mit Aserbaidschan vor.

Foto: Astrig Agopian

Die Autos, die sich auf den Hügel im Bezirk Nork Marash in der armenischen Hauptstadt Eriwan schlängeln, halten dieser Tage in den meisten Fällen vor einem zehnstöckigen Hotel, von dessen Balkons aus man bei gutem Wetter in der Ferne den Berg Ararat sehen kann. Doch wegen der Aussicht ist die 24-jährige Mariam nicht gekommen. In einem rechteckigen Anbau des Hotels befindet sich das Hauptquartier des armenischen Freiwilligenkorps Voma – die Abkürzung steht für "Die Kunst des Überlebens".

Die junge Lehrerin trägt ein Sweatshirt, grüne Wanderhosen und silberne Ohrringe. In der Hand hält sie ein Übungsgewehr: eine AK aus Kautschuk, mit der sie sich auf dem Bauch liegend wie ein Sniper in Position bringt. "Vor zwei Jahren, während des Krieges um Bergkarabach, habe ich mich ehrenamtlich für humanitäre Zwecke engagiert", sagt Mariam. Doch als Aserbaidschan vor kurzem auch Orte im Landesinneren Armeniens angriff und dabei laut armenischer Regierung mehr als 200 Menschen ums Leben kamen oder verschwunden sind, hat sich Mariam für einen anderen Weg entschieden: Sie will sich verteidigen und ist damit nicht allein. Hunderte haben sich in den vergangenen Tagen bei Voma eingeschrieben. Darunter viele Frauen.

Armeeergänzung?

Die Stimmung im Hauptquartier ist schwer und ernst, so wie derzeit überall in der Hauptstadt. Die Teilnehmer führen keinen Smalltalk. Über Politik wird nicht diskutiert. Hier wird trainiert. "Es ist beängstigend, wenn man nicht weiß oder versteht, was vor sich geht. Wenn man es weiß, hat man weniger Angst, und man ist in Aktion, bereitet sich vor", sagt Mariam.

Von Aserbaidschan wird Voma als terroristische Organisation eingestuft. Beobachter in Armenien beurteilen die Organisation dagegen als eine Art kostenlosen Service für alle, die lernen möchten, wie man sich im Ernstfall verhält. Als eine Ergänzung der desolaten staatlichen Armee, finanziert über Spenden aus der armenischen Diaspora.

Existenzielle Krise

Armenien befindet sich in einer existenziellen Krise, die nicht einmal mit jener im Jahr 2020 vergleichbar ist, als der letzte Bergkarabach-Krieg stattfand, den Armenien verlor. Bisher spielten sich die Kampfhandlungen zwischen den beiden verfeindeten Nachbarländern immer dort ab – in der ethnischen Enklave in Aserbaidschan, in der seit Jahrhunderten mehrheitlich christliche Armenier leben und sich viele armenische Monumente und Kirchen befinden. In Bergkarabach entzündete sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer wieder ein Konflikt.

Dass Aserbaidschan in der Nacht zum 13. September Städte wie Dschermuk angegriffen hat, die sich auf armenischem Staatsgebiet befinden, kam für die Bewohner Armeniens unerwartet und versetzte das ganze Land in Schrecken.

Der aserbaidschanische Diktator Ilham Alijew nutzte mit der Offensive die Gunst der Stunde, als die Welt auf den Krieg gegen die Ukraine blickte, nachdem die EU ein neues Energieabkommen mit Aserbaidschan geschlossen hatte und Armeniens wichtigster politischer Verbündeter, seine Schutzmacht Russland, geopolitisch geschwächt war.

Wie ausgestorben

Dschermuk ist mittlerweile wie ausgestorben und nur noch für Bewohner, Soldaten und Journalisten zugänglich. Die kaputten Fensterscheiben, eingebrochenen Dächer und Löcher, die in Hausmauern klaffen, sind der Grund dafür. Sie zeugen von den Raketen, die Aserbaidschan vor wenigen Tagen auf den Ort abgefeuert hat.

Mehr als 7600 Menschen, vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen wurden evakuiert. "Wir haben unsere jüngsten Kinder bei Verwandten in Sicherheit gebracht", erzählt Ishkhan, ein 40-jähriger Bauer. Seit Tagen gibt es hier kein Gas, kein fließendes Wasser und keinen Strom. "Ich habe Felder rund um die Stadt, ich baue Kartoffeln an, und ich habe Tiere hier", erklärt Ishkhan, der wie viele Männer hier aus finanziellen Gründen nicht an Flucht denken kann.

Für Fuad Shahbazov, einen in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku lebenden Politanalysten, handelte es sich bei der jüngsten Offensive um einen "präventiven Gegenangriff gegen armenische Sabotagegruppen". So jedenfalls die offizielle Erklärung Aserbaidschans. Shahbazov erklärt, dass Aserbaidschan nicht an weiteren Eskalationen interessiert sei. Das Land habe nicht die Absicht, einen Krieg zu beginnen, da man zu einem regionalen Transitknotenpunkt für Zentralasien und China nach Europa werden wolle, sagt Shahbazov. "Ein neuer regionaler Krieg könnte alle Wirtschafts- und Infrastrukturprojekte beeinträchtigen und die Beziehungen zur EU erschweren."

Fehlendes Vertrauen

Doch die Sprache auf der Website des aserbaidschanischen Außenministeriums lässt viele in Armenien daran zweifeln, dass das Nachbarland an einer friedlichen Koexistenz interessiert ist: "Wir erklären, dass die armenische militärisch-politische Führung die gesamte Verantwortung für die nächste Eskalation an der aserbaidschanisch-armenischen Staatsgrenze trägt", steht dort seit kurzem geschrieben.

Zwar wurde mittlerweile eine Waffenruhe ausgerufen. Doch die Erinnerung an die Anfänge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sitzt auch bei Armeniern tief. Viele möchten vermeiden, von einem neuerlichen Krieg überrascht zu werden. "Aserbaidschan hat nicht nur militärische Ziele angegriffen. Sie bombardieren und beschießen zivile Gebiete, Strukturen und Menschen", sagt Mariam. "Unsere gesamte Bevölkerung muss also bereit sein. Und dabei sollte es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen geben. Denn wir sind nicht viele Menschen in diesem Land. Nur drei Millionen." (Daniela Prugger und Astrig Agopian aus Dschermuk und Eriwan, 13.10.2022)