Der Ruf nach höheren Löhnen wird lauter. Im Bild: eine Gewerkschaftsdemo in Prag.

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Seitdem die Inflation ständig neue Höchststände erreicht, ist die Diskussion über die Lohn-Preis-Spirale zurück. Diese gilt für viele Ökonominnen und Ökonomen als ein Horrorszenario, aber auch Arbeitgeber und Gewerkschaften fürchten sie. Das Phänomen sieht so aus: Angetrieben durch steigende Preise, fordern Gewerkschaften höhere Löhne, die sie auch durchsetzen können. Um ihre Profite nicht zu gefährden oder um die Mehrkosten tragen zu können, heben Unternehmen ihre Preise an. Das Schnitzel im Restaurant wird ebenso teurer wie das neue Auto oder der Winterurlaub.

Damit beginnt ein Zweitrundeneffekt: Die Preise steigen wieder, die Löhne müssten nachziehen. Bisher deutet in Europa nichts darauf hin, dass so eine Entwicklung schon um sich greift. Die Löhne und Gehälter steigen zwar stärker als in den vergangenen Jahren. Aber das Plus blieb bisher weit hinter der Inflation zurück: Im zweiten Quartal 2022 lagen die Stundenlöhne in der Eurozone im Schnitt um vier Prozent über dem Vorjahreswert, während die Inflation damals bereits rund acht Prozent erreicht hatte.

Zuletzt sind die Lohnforderungen deutlich gestiegen, die Metaller zum Beispiel fordern aktuell in ein Lohnplus von 10,6 Prozent. Und in den USA hat sich die Entwicklung sowieso bereits beschleunigt, dort steigen die Löhne auch unterhalb der Inflationsrate, aber immerhin um satte sechs Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Könnte sich also diese Entwicklung beschleunigen und die Spirale in Gang setzen?

Eine Gruppe von Ökonomen beim Internationalen Währungsfonds (IWF) rund um Niels-Jakob Hansen hat sich dieser Frage in einer neuen Analyse gewidmet, die bei der Jahrestagung der Organisation in Washington präsentiert wurde. Fazit von Hansen: "Das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale scheint begrenzt", wie er sagt.

Suche nach historischen Beispielen ...

Der IWF hat vor allem nach historischen Vorbildern gesucht, also ähnliche Inflationsepisoden der vergangenen 60 Jahre ausgewertet. Dabei kam der IWF auf 22 Vorfälle, bei denen die Umstände mit der heutigen Situation vergleichbar sind, die Inflation also stark gestiegen ist, während die Arbeitslosigkeit konstant blieb oder leicht rückläufig war und die nominellen Löhne ordentlich zugelegt haben, während die realen Löhne stagnierten oder fielen. In genau drei Fällen entwickelte sich daraus eine Lohn-Preis-Spirale, so der Fonds, bei der auch im zweiten Jahr nach dem Inflationsschock Preise und Löhne weiter anzogen. Das war der Fall in den USA unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Inflationskrise in den 1970er-Jahren wieder in den Vereinigten Staaten und einmal im selben Zeitraum in Belgien.

Laut Hansen ist die Gefahr einer solchen Entwicklung aktuell auch deshalb gering, weil in allen drei Fällen Löhne zu einem relativ hohen Grad indexiert waren: Sie stiegen automatisch mit der Teuerung mit. Einen solchen Mechanismus gibt es aktuell nicht. Die Episoden dauerten relativ kurz, waren allerdings gekennzeichnet von recht großen Zinsanhebungen der Nationalbanken in der Folge, so der IWF. Das ist auch die Lehre, die der Fonds aus der Entwicklung zieht: Notenbanken müssen aggressiv reagieren.

... liefert wenige Ergebnisse

Die Untersuchung passt in eine Reihe anderer Studien, die Zweifel daran angemeldet haben, ob eine Spirale noch eine aktuelle Gefahr ist. 2015 haben die US-Ökonomen Ekaterina Peneva und Jeremy Rudd gezeigt, dass in den 1970er-Jahren ein Zusammenhang zwischen Lohnkosten und Inflation bestand, höhere Löhne also die Preise trieben.

Die Verbindung sei seitdem schwächer geworden und in den vergangenen Jahren gar nicht mehr messbar gewesen. Das soll vor allem an China und der Globalisierung gelegen haben. Das ist zumindest die Antwort in einer 2021 publizierten Arbeit der Ökonomen Sebastian Heise, Fatih Karahan und Ayşegül Şahin von der Fed in New York, einem regionalen Ableger der US-Notenbank und der University of Texas, Austin.

Die Ökonomen zeigen, dass Industriebetriebe in den USA seit der Wirtschaftskrise höhere Löhne kaum in Form höherer Preise für TV-Geräte, Kühlschränke oder Autos an Kunden weitergeben. Das liegt am gestiegenen Anteil von Warenimporten, vor allem aus China. Selbst wenn Löhne in US-Betrieben stiegen, passierte das bei Produzenten in China nicht. US-Betriebe erhöhten ihre Preise in der Folge trotz der höheren Löhne, die sie zu zahlen hatten, selbst nicht – aus Angst davor, ihre Marktposition zu verlieren.

Ob ein solcher preisdämpfender Mechanismus auch heute greifen würde angesichts eines viel breiteren Inflationsschocks, ist freilich offen. Sicher ist aber, dass der Anteil der Exporte und Importe an der Wirtschaftsleistung seit den 1970er-Jahren massiv gestiegen ist. Die Entwicklung der Löhne in China, den USA und in Euroländern spielt also eine größere Rolle bei der Entwicklung der Inflation in Österreich als früher. (András Szigetvari aus Washington, 13.10.2022)