Im Gastbeitrag berichtet Karl Reder über jüngste Bemühungen, die Lücken bei der Opferdokumentation im Zusammenhang mit den Steiner Häftlingsmorden zu schließen.

Wenn sich – wie zuletzt Anfang April 2022 – Vertreter der Opferverbände und Repräsentanten aus Politik und Verwaltung am Friedhof von Stein an der Donau einfinden, dann gedenken sie dort der Opfer eines abscheulichen Verbrechens. Am 6. April 1945 starben hunderte Justizhäftlinge der damals als "Zuchthaus" bezeichneten Strafanstalt Stein im Kugelhagel von Wehrmacht, Waffen-SS und Volkssturm.

Der Direktor wollte die Insassen des Gefängnisses angesichts des nahen Kriegsendes freilassen. Doch fanatische Nationalsozialisten unter der Wachmannschaft alarmierten die Kreisleitung in Krems unter dem Vorwand, eine Revolte sei ausgebrochen. Es folgte ein fürchterliches Blutbad, nicht nur im Zuchthaus selbst, sondern auch im Kremser Umland (euphemistisch "Kremser Hasenjagd" genannt). Das Massaker zählt zu den schlimmsten Gewaltexzessen während der Endphase des Zweiten Weltkriegs auf dem Gebiet der heutigen Republik Österreich.

Doch auch mehr als sieben Jahrzehnte später gibt es über die genaue Anzahl der Toten und Überlebenden unter den Häftlingen lediglich Mutmaßungen und grobe Schätzungen. Die in der Literatur kolportierten Angaben von 229 beziehungsweise 386 Toten wurden bisher nicht kritisch hinterfragt. Offenkundige Lücken bei der Opferdokumentation soll nun jedoch ein vom Zukunftsfonds der Republik Österreich gefördertes Projekt schließen, das der Historiker Robert Streibel gemeinsam mit mir initiiert hat. Wir beschäftigen uns bereits mehrere Jahre mit dem Thema, wobei Robert Streibel nicht nur einen Roman zu Stein geschrieben, sondern sich auch für die Gedenkarbeit verdient gemacht hat.

Neben den wissenschaftlichen und erinnerungspolitischen Aspekten soll der Aufwand auch Familienangehörigen ehemaliger Häftlinge im In- und Ausland zugutekommen. Bis in die Gegenwart suchen sie vereinzelt immer noch nach der letzten Ruhestätte ihrer vermissten Großväter oder Urgroßväter. Manche nehmen lange Anreisen in Kauf, um bei der Gedenkstätte am Steiner Friedhof Blumen für die damaligen Opfer niederzulegen.

Ehrengrab mit Gedenkstein am Friedhof Stein/Donau.
Foto: Karl Reder

Erfolgreiche Archivrecherchen

Die Umsetzung des Vorhabens erfolgt stufenweise. Zunächst galt es, die genaue Zahl und die Namen all jener Justizhäftlinge zu erfassen, die sich am Morgen des 6. April 1945 in Stein befunden hatten. Als besonderer Glücksfall für dieses Projekt erwies sich dabei der Fund von originalen Gefangenenregisterbüchern des ehemaligen Zuchthauses. Damit bot sich die einmalige Gelegenheit, die darin enthaltenen Häftlingsdaten vollständig zu digitalisieren.

In monatelanger Kleinarbeit mussten zunächst von einem Helferteam die handschriftlichen Registereinträge von rund 4.800 Personen in elektronische Listenform transkribiert werden. Es gelang schließlich, rund 1.830 Männer herauszufiltern, die sich an jenem schicksalsreichen Apriltag in Stein aufgehalten hatten. Dieses Datensegment wurde am Ende des Prozesses von den Schrifterkennungsexpertinnen Brigitte Urabl und Alexandra Schweißer von Vetera Legimus nochmals qualitätsgesichert. Zeugenaussagen aus den Volksgerichtsprozessen nach 1945, die den damaligen Häftlingsstand mit 1.836 Gefangenen bezifferten, konnten damit eindeutig bestätigt werden.

Die so erarbeitete Datenbasis bildet nun die Grundlage für die Phase 2, die weiterführende namentliche Identifizierung der Überlebenden und Toten. Als Quellen dienen hierfür beispielsweise Namenslisten jener Häftlinge, die von alliierten Truppen zu Kriegsende 1945 befreit wurden. Ergänzend dazu bieten sich regionale Friedhofsunterlagen und Exhumierungsberichte zur Überprüfung an. Anhand aufgefundener Erkennungsmarken gelang es bereits damals, die Identität eines Teils der Ermordeten im Zuge von Umbettungsarbeiten zu klären.

"Verbleib unbekannt"

Nach Abzug der überlebenden und nachweislich verstorbenen Häftlinge blieb eine größere Personengruppe übrig, deren Verbleib als unbekannt eingestuft werden musste. Zur Klärung der individuellen Schicksale kamen, angelehnt an die Herkunft der Opfer, differenzierte Methoden zur Anwendung.

Rund ein Drittel der 1.836 Häftlinge war auf dem Staatsgebiet der heutigen Republik Österreich geboren worden. Zur Recherche der Gefangenen aus Wien bediente sich Robert Streibel historischer Meldedaten. Parallel dazu nahm ich mithilfe von online verfügbaren Pfarrmatriken die Spur der aus den anderen Bundesländern stammenden Personen auf.

Neben Bürgern des Deutschen Reiches saßen in den Steiner Gefängniszellen auch sehr viele Ausländer. Sie waren als Zivilisten in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten oder als Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene innerhalb der deutschen Reichsgrenzen in die Mühlen der NS-Justiz geraten. Zur näheren Erforschung dieser Gruppe erfolgte die Kontaktaufnahme mit den diplomatischen Vertretungen von Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien, Serbien, Slowenien und der Tschechischen Republik. Den Behörden der genannten Staaten konnten vollständige biografischen Daten ihrer Landsleute zur Prüfung übergeben werden.

Ein Name, ein Schicksal

181 Namen umfasst beispielsweise die Aufstellung jener Stein-Häftlinge, deren Geburtsort innerhalb der Grenzen der heutigen Tschechischen Republik liegt. Darunter finden wir Aktivisten des tschechischen Widerstands genauso wie von der NS-Justiz verurteilte Sudetendeutsche.

Als einer der Männer auf der Liste tschechischer Häftlinge scheint Jaroslav Petráš auf, geboren 1921 im mährischen Řečkovice (Retschkowitz). Seit 1941 saß er in Stein ein, verurteilt wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu fünf Jahren Zuchthaus. Als die Exekutivkräfte am 6. April 1945 im Zuchthaus wahllos das Feuer auf die Häftlinge eröffneten, kam er inmitten der entstehenden Panik zu Sturz. Nach Kriegsende brachte er als einer der Ersten seine Erlebnisse zu Papier:

"Weil ich regungslos in einer Blutlache lag, wurde ich für tot gehalten, bekam nur einen harten Tritt und als Zugabe eine weitere Kugel, die mich am Rückgrat versengte [...]. Ich wagte nicht zu atmen, denn ich fühlte, die Lunge war getroffen."

Kurze Zeit später wurde Petráš von weiteren Projektilen schwer verletzt. Nach dem Blutbad musste ein aus Häftlingen gebildetes Totengräberkommando die Opfer in ein frisch ausgehobenes Massengrab im Gefängnishof werfen. Dabei bemerkte ein Grieche noch Lebenszeichen bei seinem tschechischen Kameraden, ließ ihn zunächst unbemerkt zur Seite legen und dann ins Anstaltsspital bringen. Dort blieb Jaroslav Petráš schwer verwundet zurück, während die übrigen Überlebenden am 8. April 1945 in Haftanstalten nach Bayern verschleppt wurden. Nach der Befreiung von Krems durch die Rote Armee verlegte man Jaroslav Petráš ins örtliche Krankenhaus, von wo er Ende Mai 1945 nach seiner Genesung den Heimweg antreten konnte.

Erste überraschende Ergebnisse

Über Vermittlung von Botschafter Jiří Šitler übernahm das Prager Innenministerium dankenswerterweise die Prüfung der vom Projektteam bereitgestellten Namensliste. Dabei lag der Schwerpunkt auf den rund 100 ungeklärten Fällen. Tatsächlich gelang es den Behörden, darunter eine überraschend große Anzahl von Personen zu identifizieren, die den 9. Mai 1945 überlebt hatten. Der offizielle Vertreter Tschechiens zeigte sich ausgesprochen interessiert und bedankte sich anlässlich eines Empfangs in der Botschaft Anfang Oktober 2022 persönlich beim Projektteam für den geleisteten Beitrag zur Erinnerungsarbeit beiderseits der Grenze.

Robert Streibel, Botschafter Jiří Šitler, Karl Reder (v. li.).
Foto: Tschechische Botschaft Wien

Doch welche Faktoren haben die Überlebensrate gerade der Tschechen im Zusammenhang mit der Auflösung des Zuchthauses Stein 1945 beeinflusst? Hier spielte sicher die Geografie eine Rolle: Besonders die aus den südlichen Regionen Böhmens und Mährens stammenden Männer profitierten von der relativen Nähe zur Heimat und ihren Ortskenntnissen. Wohl kam den Freigelassenen und Flüchtigen auch der Umstand zugute, dass die von Krems-Stein nach Norden verlaufenden Verkehrswege Anfang April 1945 noch nicht unmittelbar von Kampfhandlungen bedroht waren. Die durchwegs dünn besiedelten Gebiete mit ausgedehnten Wäldern entlang der Marschroute boten auch effektive Möglichkeiten, sich zu verstecken.

Der Beitrag aus Prag und die bisherigen Recherchen in Österreich bedeuten einen signifikanten Fortschritt bei der Zusammenstellung einer umfassenden Opferbilanz des Stein-Massakers. Von den Vermissten dürfte etwa die Hälfte ums Leben gekommen sein, wenn man die namentlich nicht identifizierten Toten in diversen bekannten Häftlingsgräbern berücksichtigt. Angesichts der trotzdem hohen Zahl ungeklärter Fälle können allerdings weitere, bislang ungeöffnete Massengräber im Raum Krems nicht ausgeschlossen werden.

Vorläufige Opferbilanz des Stein-Massakers (Stand Oktober 2022).
Foto: Karl Reder

Mythenbildung und Realität

Bei der Zusammenstellung der Namenslisten wurde grundsätzlich keine Rücksicht auf den jeweiligen Inhaftierungsgrund genommen. Nach derzeitigem Forschungsstand ist dieser ohnehin nur bei einem Bruchteil der Häftlinge bekannt.

Dass sich in Stein laut bisher gängigem Narrativ "hauptsächlich" oder "überwiegend" politische Häftlinge befunden hätten, entspricht allerdings nicht den Tatsachen. Der Anteil der dort im April 1945 wegen Hochverratsdelikten eingekerkerten Männer dürfte um die zehn Prozent betragen haben, wie aus Aufzeichnungen im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) und Haftunterlagen hervorgeht. Rechnet man Urteile hinzu, die sich auf nichtkonformistisches Handeln beziehen (beispielsweise Wehrkraftzersetzung, Rundfunkverbrechen oder Sabotage), dann erhöht sich dieser Wert auf rund 25 Prozent.

Bei den übrigen Gefangenen handelte es sich – freilich nach damaligem NS-Rechtsverständnis – um kriminelle Straftäter. Hier dominierten eindeutig alle Formen von Eigentums- und Wirtschaftsdelikten, während Gewalttäter klar in der Minderheit blieben. Zu den "Kriminellen" zählte man in jener Zeit aber neben Opfern der Wehrmachtsjustiz (wie etwa Deserteuren) auch Männer, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden (Homosexuelle).

Eine detailliertere Aufschlüsselung und Untersuchung der Häftlingsgruppen, etwa nach Nationalität und Delikt, ist Gegenstand eines eigenständigen Publikationsprojekts. Hier besteht zudem die Hoffnung, dass in der Zukunft noch weitere verwertbare Datenbestände der Forschung zugänglich gemacht werden.

Neuer Impuls für die Gedenkarbeit?

Das Thema Stein führt unausweichlich auch zur Fragestellung, wie Erinnerungsarbeit aussehen kann, die politische und kriminelle Häftlinge als NS-Opfergruppen gleichzeitig in den Kontext rückt. Zweifellos ein schwieriges Terrain, wo vielleicht der Grundsatz "Verbrechen an Verbrechern sind auch Verbrechen" eine Orientierungshilfe bieten kann.

Für das Frühjahr 2023 ist als formaler Abschluss des Projekts jedenfalls die Erstellung eines vorläufigen Endberichts an den Zukunftsfonds geplant. In welcher Art und Weise die Ergebnisse danach in die öffentliche Gedenk- und Erinnerungsarbeit zum Stein-Massaker einfließen, ist noch offen. Aber zumindest kann dann auf 1.836 Namen zurückgegriffen werden, die vor dem Vergessen gerettet und für weiterführende Forschungen gesichert werden konnten. (Karl Reder, 17.10.2022)