Es ist jene Kriegslogik, die auf den ersten Blick nicht unbedingt verständlich wirkt: Nichts ist so gefährlich wie ein defensiv perfekt hochgerüsteter Feind. Denn wer nicht länger verwundbar ist, hat bei eigenen Angriffen plötzlich nichts mehr zu verlieren. Während des Kalten Kriegs war diese Logik allgegenwärtig und Kern des ABM-Vertrags, der ein flächendeckendes System antiballistischer Raketen verbot. Weil weite Teile der Sowjetunion und der USA eben verwundbar bleiben müssten, ansonsten funktioniere die Logik der versicherten gegenseitigen Zerstörung nicht mehr. Anfangs waren noch zwei Systeme, später gar nur noch eines zum Schutz der Hauptstadt oder einer weiteren Metropole erlaubt. Bis der Vertrag Anfang der 2000er wie so viele bilaterale Rüstungsverträge zwischen Moskau und Washington in die Brüche ging.

Dieser Logik folgend, dürfte Moskau in den nächsten Tagen wieder einmal aufstöhnen, nachdem man erneut vor einem dritten Weltkrieg warnte, sollte die Ukraine der Nato beitreten. Auch dass Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, ein Sieg Russlands in der Ukraine sei auch eine Niederlage der Nato, dürfte im Kreml für Aufsehen sorgen. Man werde die Ukraine im kommenden Winter verstärkt unterstützen, mit Waffen wie Equipment, versicherte Stoltenberg.

Hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bisher schon das nähere Zusammenrücken sowie Erweiterungsbemühungen des Verteidigungsbündnisses Nato bewirkt und für ein Aufstocken der Militärbudgets gesorgt, konnten sich 15 europäische Staaten am Donnerstag auch noch dazu durchringen, das Schließen bestehender Lücken in ihrem Luftabwehrsystem in Angriff zu nehmen – vor allem gegen konventionelle Waffen, wohlgemerkt. Wobei freilich auch die atomare Bedrohung durch Russland ein Thema war und an einem als geheim eingestuften Treffen der sogenannten Nuklearen Planungsgruppe gearbeitet wurde.

Stoltenberg war bemüht zu betonen, dass es der Nato um die Wahrung des Friedens gehe, ließ aber auch damit aufhorchen, dass ein Sieg Russlands in der Ukraine auch eine Niederlage für die Nato bedeute.
Foto: AP /Olivier Matthys

European Sky Shield

Die Verteidigungsministerinnen Großbritanniens, der Slowakei, Norwegens, Lettlands, Ungarns, Bulgariens, Belgiens, Tschechiens, Finnlands, Litauens, der Niederlande, Rumäniens und Sloweniens fanden sich jedenfalls am Donnerstagmorgen zur Unterzeichnungszeremonie einer Absichtserklärung in Brüssel ein. Auch Estland soll dem Vernehmen nach mitmachen wollen, womit die baltischen Staaten geschlossen dabei wären. Das Projekt soll den futuristischen Namen "European Sky Shield" tragen, also eine Art über den europäischen Himmel gespannter Schutzschild.

Von einer Stärkung der europäischen Sicherheitsarchitektur ist die Rede und dem dringlichen Schutz vor Raketenbeschuss, wie er aktuell die Zivilbevölkerung in ukrainischen Städten terrorisiert. Auch am Donnerstag wurden ukrainischen Angaben zufolge wieder mehr als 40 Städte von russischen Raketen und Drohnen getroffen.

Arrow-3 aus Israel

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte ein solches Luft- und Raketenabwehrsystem bereits Ende August während seiner Europarede in Prag aufs Tapet gebracht. Die Luftraumverteidigung auf europäische Schultern zu stützen "wäre nicht nur kostengünstiger und effizienter, als wenn jeder von uns seine eigene, teure und hochkomplexe Luftverteidigung aufbaut", sagte Scholz damals. Und mit prall gefüllten Portemonnaies, wie es sie aktuell gibt, shoppt es sich nun einmal leichter.

Was aber steht auf der Einkaufsliste der 15 Staaten? Iris-T-SLM-Systeme aus Deutschland, die Berlin gerade auch der Ukraine geliefert hat, US-amerikanische Patriots und am liebsten auch noch das Arrow-3-System aus Israel. Allein Letzteres soll um die zwei Milliarden Euro kosten, weshalb eine Aufteilung auf mehrere Partner auch budgetpolitisch Sinn macht. "Unter optimalen Bedingungen" könne das System jedoch frühestens ab 2025 in Betrieb genommen werden, sagte die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) kürzlich. In der Vergangenheit hatten politische Gründe oder ein US-amerikanisches Veto das Interesse Indiens, der Türkei, des Vereinigten Königreichs, Japans und Singapurs am Kauf des hochmodernen Systems verhindert. Aber auch hier könnte der Ukraine-Krieg ein neues Zeitfenster öffnen und letztlich ein Verkauf an die Deutschen erfolgen. Bis zu fünf binnen 30 Sekunden abgefeuerte Abwehrraketen erreichen dabei Spitzengeschwindigkeiten der neunfachen Schallgeschwindigkeit – 2.400 Kilometer Reichweite inklusive.

Ein Arrow-3-System beim Start. Das hochmoderne israelische System hat auch schon früher Begehrlichkeiten bei anderen Staaten geweckt. Bisher lehnte aber oft der große Alliierte aus Washington Verkäufe ab.
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Den Staaten geht es vor allem auch darum, Defizite bei Raketenflugbahnen in großen Höhen, aber auch bei der Abwehr von Drohnen und Marschflugkörpern auszugleichen. Die bisherige Luftraumabwehr war vor allem auf mögliche Angriffe aus dem Iran fokussiert. (Fabian Sommavilla, 14.10.2022)