Wien – Wie retten sich Händler, die aus der Pandemie geschwächt hervorgehen, über die Konsumkrise, die die Hoffnung auf eine nachhaltige Erholung der Geschäfte zunichtemacht? Droht der Branche eine veritable Pleitewelle? Jeder verlorene Arbeitsplatz sei tragisch – in der Regel aber auf Managementfehler zurückzuführen, sind sich Helga Fichtinger und Martin Müllauer einig. "Niedrige Gehälter werden Betriebe nicht vorm Zusperren bewahren."

Müssen sich Handelsangestellte noch wärmer anziehen? Ab Dienstag wird über ihre Gehälter verhandelt.
Foto: APA

Die beiden Gewerkschafter feilschen ab dem kommenden Dienstag mit den Arbeitgebern um die Löhne in Österreichs Handel. Davon betroffen sind 415.000 Angestellte, 134.000 Arbeiter und 15.000 Lehrlinge. Die deutliche Mehrheit unter ihnen sind Frauen.

Fast jeder dritte Beschäftigte im Handel arbeite im Lebensmittelhandel, der aufgrund der monatelang lahmgelegten Gastronomie gestärkt aus den Corona-Jahren hervorging, rechnet Fichtinger vor. Es könne nicht sein, dass man sich bei den Verhandlungen über den neuen Kollektivvertrag nur an den schwächsten Unternehmen orientiere.

Tiefe Kluft in der Branche

Was aber, wenn mehr Geld anderswo reihenweise Jobs kostet? Dann sei es immer noch besser, mit einer höheren Bemessungsgrundlage in die Arbeitslosigkeit zu gehen, zieht Müllauer nüchtern Bilanz.

Eine heikle Gratwanderung waren die Lohnrunden im Handel schon immer. Zu heterogen sind die Bilanzen seiner Unternehmen selbst innerhalb gleicher Branchen. Heuer könnte der Weg zu einem gemeinsamen Nenner zäher und länger werden denn je.

Nachwehen der Pandemie, gestörte Lieferketten, enorme Inflation, verunsicherte Kunden und massiver Mangel an Mitarbeitern brauten sich für die Arbeitgeber zu einem gefährlichen Mix zusammen. Zugleich benötigen ihre Beschäftigten, die mit einem Mindestgehalt von 1.800 Euro brutto monatlich wenig finanziellen Spielraum haben, jeden Euro mehr auf dem Gehaltszettel, um die explodierenden Lebenshaltungskosten zu stemmen.

Um wie viel genau ihr Einkommen im kommenden Jahr steigen soll, darauf lässt sich die Gewerkschaft noch nicht festlegen: Prozentuelle Forderungen gibt sie traditionell am ersten Tag der Verhandlungen bekannt. Klar macht sie jedoch: Ein Abschluss unter einer Jahresinflation von 6,9 Prozent komme nicht infrage.

Höhere Zuschläge, mehr Urlaub

Neben mehr Geld verlangen die Arbeitnehmer einen Fixbetrag für Lehrlinge von 150 Euro. Sie wollen einen Zuschlag für Mehrarbeitszeiten ab der ersten Stunde Überschreitung. Bestehende Überzahlungen sollen in voller Höhe aufrechterhalten bleiben. Und sie pochen einmal mehr auf eine sechste Urlaubswoche. Diese diene dazu, Jobs in dem von Mitarbeiterflucht geprägten Handel attraktiver zu machen. "Die sechste Urlaubswoche wird so lange auf unserem Forderungskatalog stehen, bis wir sie haben", sagt Müllauer.

Fichtinger sieht keinen Grund, staatliche Hilfen der Regierung für die Bevölkerung, um die hohen Energiekosten abzufedern, in den Gehaltsverhandlungen gegenzurechnen. Diese basierten vor allem auf einmaligen Zahlungen – von einer dauerhaften finanziellen Entlastung für die Haushalte sei keine Rede.

Auch die Abschaffung der kalten Progression lässt die Gewerkschafterin nicht als Maßstab für die Lohnrunde gelten. Und dass höhere Gehälter nicht die Preise und somit auch nicht die Inflation antreiben, habe die Vergangenheit mehrfach bewiesen.

Was gibt es zu verteilen?

Zu verteilen ist im Handel aus Perspektive der Arbeitnehmer einiges. Er habe sehr gut gewirtschaftet, ist Fichtinger überzeugt und zieht einen Branchenreport der Arbeiterkammer heran. Deren Analyse zufolge wiesen 189 Kapitalgesellschaften im Vorjahr im Schnitt um 73 Prozent höhere Gewinne aus. Ihre Umsätze seien zugleich um elf Prozent gewachsen.

Fichtinger ist sich sicher, dass der Handel selbst am meisten von höheren Löhnen profitiert. "Denn diese werden beim nächsten Einkauf wieder ausgegeben."

Rainer Trefelik, Chefverhandler der Arbeitgeber, zweifelt an der Aussagekraft der Zahlen, zumal viele Handelskonzerne ihre Bilanzen 2021 erst Ende Oktober finalisierten. Dass höhere Gehälter zurück in den Konsum fließen – dieses Perpetuum mobile habe noch kein Ökonom bewiesen. "Wäre es so einfach, wäre es die Lösung gegen alle Rezessionen."

Stunde der Diskonter

Der Einzelhandel erwartet heuer real ein Umsatzminus. Eine aktuelle Studie der Kepler-Universität Linz verortet Konsumenten in einer Schockstarre. Zugleich schlage die Stunde der Diskonter. Das Resümee der Experten: Das Konsumklima wie das Einkaufsverhalten seien katastrophal. Der Einzelhandel leide aufgrund der teuren Energie und steigender Kosten an allen Fronten doppelt.

Trefelik erteilt der sechsten Urlaubswoche auf STANDARD-Nachfrage wie auch in den Jahren zuvor eine scharfe Absage. Was die Zuschläge betrifft, falle dazu auch den Arbeitgebern vieles ein, was nicht mehr zeitgemäß sei, meint er mit Blick auf teurere Arbeit an Samstagnachmittagen.

Kürzer einkaufen?

Flach halten wollen Unternehmer den Ball rund um immer wieder aufflackernde Debatten über kürzere Öffnungszeiten im Handel, die dabei helfen sollten, Energie zu sparen und Personalengpässe zu überbrücken. Kürzere Ladenöffnung habe sich während der Corona-Krise bewährt, betont Fichtinger und nennt diese eine Win-win-Situation für den Handel. "Wir sind gerne bereit, in diese Diskussion einzusteigen."

Trefelik hingegen warnt davor, Kernöffnungszeiten anzutasten. "Der Handel würde damit mehr Kunden verlieren, als ihm lieb ist." Denn die Konkurrenz im Internet schlafe nicht. Erfahrungen der Friseure, die an ihrem geschlossenen Montag rütteln wollten, zeigten, wie rasch sich Konsumenten verunsichern ließen. Für den Handelsobmann spricht nichts gegen einzelne freiwillige Adjustierungen innerhalb des gesetzlichen Rahmens von 72 offenen Wochenstunden. "Die Gewerkschaft sollte das alles jedoch zu Ende denken: Kürzere Öffnungszeiten heißt weniger Jobs."

"Brückenbauer gefragt"

Er hüte sich davor, Sozialpartnern Ratschläge zu geben, sagt Stephan Mayer-Heinisch, Präsident des Handelsverbands. Aber nun sei der Bau von Brücken gefragt. Die Volkswirtschaft sei so unsicher wie nie zuvor. Der Einzelhandel erfülle für sie eine wichtige Funktion: Ohne Geschäfte seien Städte und Orte tot. "Es sind nicht die Amazons dieser Welt, die Lebensqualität sichern. Und Lebensqualität bedeutet auch, in 500 Laufmetern Entfernung einkaufen zu können."

"Kampfbereit"

Orientierung für den Abschluss im Handel geben die Metaller. Ihre Verhandlungen gehen am Montag in die zweite Runde. 10,6 Prozent mehr Lohn wollen sie durchsetzen und geben sich dafür kampfbereit. Sollte es Anfang der Woche zu keiner Einigung kommen, drohen sie mit Betriebsversammlungen. Auch der Handel winkt mit einem "gewerkschaftlichen Blumenstrauß." Aktionspläne seien fertig vorbereitet, wenn Argumente nicht mehr reichten, sagt Müllauer. "Lassen Sie sich überraschen." (Verena Kainrath, 14.10.2022)