Ana Penyas, "Sonnenseiten". Aus dem Spanischen von Lea Hübner. € 19,– / 144 Seiten. Bahoe Books, 2022 buchmesse.de

Foto: Sonnenseiten: Verlag

Unscheinbar wirken Ana Penyas' Zeichnungen auf den ersten Blick. Doch das täuscht: Die 1987 in Valencia geborene Künstlerin kombiniert einfache Figurendarstellungen, die an naive Malerei erinnern, mit vielschichtigen farblichen Hintergründen. Dabei bringt sie verschiedene Techniken von Aquarell, Gouache und Farbstiften zum Einsatz, oft in ein und demselben Bild. Zudem bearbeitet die Zeichnerin Fotos aus Zeitungen oder dem Internet und baut sie – scheinbar – organisch in ihre Bilder ein. Bei genauerem Hinsehen kann man die Montagen entdecken und die zahlreichen Bruchlinien erkennen.

Brüche und Umbrüche sind denn auch das große Thema des Comics "Sonnenseiten", für den die Mitte-30-Jährige höchste Auszeichnungen erhalten hat. Anhand von drei Generationen breitet Penyas, beginnend in der Franco-Zeit der 1960er-Jahre, ein historisches Panorama der Veränderungen der sozialen Verhältnisse und des Alltagslebens aus. Motor dieser Umschwünge ist der Tourismus, worauf der Titel ("Todo bajo el sol") anspielt. Der Comic zeigt nicht nur die beiden Kehrseiten dieses seit Franco zentralen Wirtschaftszweigs des Landes: die Sonnenseiten, wie sie Urlaubsuchenden erscheinen mögen, und die Schattenseiten, die sich der lokalen Bevölkerung offenbaren. Er skizziert auch die verheerenden Folgen, die ein entfesselter Massentourismus entlang der Levante-Küste im Osten Spaniens bis in die Gegenwart angerichtet hat.

Ansehnliches Material

Spannend ist dabei vor allem das Wie: In zunehmend kleiner werdenden Abständen von zwanzig, zehn oder fünf Jahren verfolgt Penyas Umbrüche und Veränderungen und kehrt dabei wiederholt in dieselben Viertel zurück. So obliegt es den Lesenden selbst, die Verwandlungen der Landschaften nachzuvollziehen und einzuordnen. Der Vielschichtigkeit der Einzelbilder, die durch die eingebetteten und übermalten Fotoelemente eine Wirkung von umgekehrten Palimpsesten entfalten, entspricht die Gesamtkomposition des Comics, in den eine ganze Reihe von Medien und Zitaten eingelagert ist, darunter ein historischer Reiseführer aus der Franco-Zeit, Broschüren, Zeitungsausschnitte, Werbeplakate und Graffiti. Mehrmals zitiert die Autorin ganze Passagen aus historischen Filmen, Dokus oder TV-Shows.

Zugleich wird der Comic durch die Familiengeschichte sehr konkret. Alfonso zieht in den 1960ern in die Stadt und verdingt sich als Kellner in einem Edelhotel. In präzisen Dialogen fängt Penyas Beziehungsverhältnisse ein, macht gesellschaftliche Hierarchien und Formen der Entfremdung spürbar. Das Geflecht an Entfremdungen beginnt mit Alfonsos Vater, der den Fortgang des Sohnes nicht verstehen kann, es setzt sich in Alfonsos Unverständnis gegenüber den eigenen Kindern fort. Das sind Phänomene, die zweifellos bekannt sind, die hier jedoch durch den Zugriff eines aggressiven Neoliberalismus, der auf den bedrückenden Franquismus folgt, mit Enteignung, Vertreibung und Gentrifizierung eigene Dimensionen annehmen. Gleich einem Seismografen nimmt die Zeichnerin die großen und kleinen Erschütterungen wahr. Und macht die Risse bis in die Einzelbilder hinein sichtbar. (Martin Reiterer, 18.10.2022)