Raphaela Scharf (links) und Nicola Werdenigg.

Foto: Regine Hendrich

Die Ex-Skirennläuferin Nicola Werdenigg sprach gut einen Monat nach Aufwallen der #MeToo-Bewegung 2017 über sexualisierte Übergriffe im Sport und darüber, dass sie selbst mit 16 Jahren von einem Teamkollegen vergewaltigt wurde. Raphaela Scharf wehrte sich gut ein Jahr nach dem Beginn der #MeToo-Bewegung gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und fand sich in jahrelangen Rechtsstreitigkeiten mit ihrem Ex-Chef Wolfgang Fellner wieder. Beide engagieren sich heute gegen Diskriminierung und sexualisierte Gewalt. Sie kommen aus unterschiedlichen Branchen und machten ihre Erfahrungen in einem sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Klima – vor und nach #MeToo. Trotzdem gibt es sehr viele Ähnlichkeiten.

STANDARD: Sind Sie #MeToo-müde?

Werdenigg: Überhaupt nicht. Es ist so viel passiert, denken wir nur an die kürzlich eingerichtete Vertrauensstelle Vera. Solche Erfolge motivieren, und es gibt noch so viel zu tun.

Scharf: Nein, für mich war meine Geschichte ein Ansporn, und ich werde nicht müde.

STANDARD: Erinnern Sie sich noch, wie Sie das Aufwallen der #MeToo-Bewegung im Herbst 2017 erlebt haben?

Werdenigg: Ja, es war Paukenschlag. Ich hatte damals schon geplant, selbst mit meiner Geschichte in die Öffentlichkeit zu gehen – schon Monate vor dem Oktober 2017. Als bekannt wurde, dass in einem Volleyballverein 50 minderjährige Mädchen sexuell missbraucht wurden, war für mich klar, dass ich das tun muss. Insofern war #MeToo für mich ein Glücksfall, und ich dachte, jetzt kommt der Stein ins Rollen.

Scharf: Ich arbeitete damals bei ProSieben und lebte in München, wo ich in der U-Bahn – einfach überall – darüber gelesen habe. Ich dachte, wie mutig von den Frauen, und habe dann selbst darüber nachgedacht, was mir alles widerfahren ist. Auch meine Freundinnen haben begonnen zu reflektierten, ob sie auch so was erlebt haben – und es stellte sich heraus, fast jede hat etwas erlebt. Am Arbeitsplatz, auf der Uni, in der Schule.

STANDARD: Frau Scharf, Sie haben so etwas wie einen ganz klassischen Fall erlebt: am Arbeitsplatz, der Chef, die Sorge vor Jobverlust. Das alles ging für Sie erst nach #MeToo los. Hatten Sie damals das Gefühl, dass Sie es mit einem größeren gesellschaftlichen Problem zu tun haben?

Scharf: Nein, ich habe das nicht in einem größeren Zusammenhang erlebt. Ich war so in meiner eigenen Welt und mit mir beschäftigt. Ich bin in der Früh aufgestanden und dachte mir: Hilfe – ich muss jetzt wieder an diesen Arbeitsplatz. Ich stand massiv unter Druck, ich fühlte mich hilflos und wusste nicht, wem ich mich anvertrauen kann. Das war eine sehr schwere Zeit. Ich habe da nie an #MeToo gedacht, ich war damit beschäftigt, was mir da gerade passiert – und damit, alles zu dokumentieren. Mir war aber auch klar, dass viele Frauen Ähnliches erlebt haben, aber es wurde einfach alles unter den Teppich gekehrt. Es gab innerhalb des Hauses ein ungeschriebenes Gesetz, dass du gewisse Dinge einfach durchstehen musst, sonst bist du weg vom Fenster.

STANDARD: Wann war für Sie die rote Linie erreicht?

Scharf: Als er mir bei einem Fotoshooting vor versammelter Mannschaft auf den Po gegrapscht hat. Ich habe viel ertragen, über mehrere Monate hinweg, aber nach diesem Fotoshooting bin ich zur Programmdirektorin und zum Betriebsrat. Bei der Gleichbehandlungsanwaltschaft habe ich alles deponiert: das Gedächtnisprotokoll, das ich geführt habe, die Whatsapp-Nachrichten, die Bilder, die mir geschickt wurden. Mir war klar, dass an diesem Arbeitsplatz Dinge vor sich gehen, die nicht rechtens sind. Aber trotzdem hat es jemanden von außen gebraucht, der sagt: Frau Scharf, das ist sexuelle Belästigung. Erst das hat mir richtig die Augen geöffnet.

STANDARD: Frau Werdenigg, Sie mussten eine Vergewaltigung Jahrzehnte vor #MeToo erleben. Sexualisierte Gewalt war noch kein Begriff.

Werdenigg: Nein, das war komplettes Tabuthema, man hatte einfach keine Sprache dafür. Und vor allem hat man die Betroffenen zu den Schuldigen gemacht.

STANDARD: Die Frage, warum Betroffene erst jetzt reden, war während der Debatte über #MeToo zentral. Wie ist es Ihnen mit Reaktionen wie diesen gegangen?

Werdenigg: Für Fragen wie diese habe ich mir vorgefertigte Antworten zurechtgelegt. Die blöden Fragen haben mich nicht sonderlich berührt. Auch viele andere Betroffene haben sehr spät geredet, im Zuge dessen hat mich aber die Frage schon beschäftigt, warum das so ist. Die Mechanismen sind fast überall gleich: Man traut sich nicht, ist voller Angst, dass man Victim Blaming abbekommt – überhaupt als junger Mensch. Dann ist es bei vielen so, dann kommt eine Familie, Kinder – dann ist wieder nicht der richtige Zeitpunkt. Ich selbst ging erst in einer Zeit an die Öffentlichkeit, als ich das für mich längst gut aufgearbeitet hatte. Das hat mir sehr geholfen dabei, als ich öffentlich darüber redete.

Scharf: "Ich habe mich gefragt, warum keine andere auch redet."
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Frau Scharf, Sie haben schnell reagiert. Das gesellschaftliche Klima, ob es eine Sprache dafür gibt – welchen Stellenwert geben Sie diesen Faktoren?

Scharf: Wir leben in einem Patriarchat. Ich bin 32 und damit aufgewachsen, dass das irgendwie schon okay ist, wenn man sich am Arbeitsplatz "ein bisschen näherkommt", dass man gewisse Witze hinnehmen muss. Dass wir Frauen nur auf unser Aussehen reduziert werden, dass wir sexualisiert werden. Dass du selbst schuld bist, wenn du dich so oder so verhältst. Dann denkt man darüber nach, was man selbst gemacht hat, dass das passiert ist. Betroffene schlagen sich damit herum, auch ob es vielleicht gar nicht so wild ist. Sie wollen sich nicht austauschen, weil sie auch Scham und Ekel empfinden – vor sich selbst.

Werdenigg: Ich habe mich so fürchterlich geschämt. Kürzlich hat mir jemand von einer handfesten Vergewaltigung erzählt, doch die betroffene Frau fragte sich trotzdem: "Bin ich vergewaltigt worden?" Wie Frau Scharf sagt, man braucht oft noch immer die Bestätigung von außen, um zu sehen, was passiert ist. Damals, mit 16, hatte ich niemanden, später war ich glücklich, dass ich sowohl mit meinem mittlerweile verstorbenen Mann als auch mit meiner Therapeutin endlich darüber reden konnte und das Thema hinter mir lassen konnte. Ich habe das nicht wegen mir gemacht, dass ich in die Öffentlichkeit gegangen bin, sondern um einen Systemwechsel herbeizuführen.

STANDARD: Frau Scharf, wie ging es Ihnen, als die Vorwürfe öffentlich wurden?

Scharf: Ich war so damit beschäftigt, um mein zu Recht zu kämpfen, dass ich nie gedacht hätte, dass das eine derart riesige #MeToo-Debatte in Österreich wird. Niemals. Ich war sehr überrascht, dass mir enorm viele Frauen, aber auch Männer geschrieben haben und sagten: großartig, was du machst. Mir wurde auf die Schultern geklopft und Mut gemacht. Aber im Endeffekt war ich diejenige, die an der Front und vor Gericht stand. Es gab keine, die sich mir auch öffentlich angeschlossen hat. Es war tatsächlich sehr, sehr hart.

STANDARD: Frau Werdenigg, waren Sie enttäuscht von anderen Betroffenen?

Werdenigg: Enttäuschend war, dass sich von den Ski-Kolleginnen nur ganz wenige hinter mich gestellt haben und ich in dem Umfeld auch als Nestbeschmutzerin gesehen wurde. Aber irgendwie habe ich das auch erwartet. Kommentare und Anfeindungen auf sozialen Medien von Fremden, damit kam ich zurecht – für meine Familie war das aber oft problematisch.

Scharf: Enttäuschend fand ich, dass es innerhalb der kleinen Medienlandschaft in Österreich oft hieß: Ja, haben wir eh gewusst. Ja warum hat dann noch nie jemand irgendwas gesagt? Warum hat sich hier keiner getraut? Warum hat es ein deutsches Medium gebraucht, dass über unsere Missstände innerhalb der Medienlandschaft gesprochen wird? Diese Fragen habe ich mir so oft gestellt.

STANDARD: War es nicht wahnsinnig frustrierend zu wissen, dass es viele andere Geschichten gibt und man trotzdem allein dasteht?

Werdenigg: Ich habe das nicht so empfunden. Ich habe gleich ein paar Verbündete gesucht, allerdings sind sie anonym geblieben. Meine Kolleginnen, die mit mir im Team waren, haben behauptet, dass ich gelogen hätte. Ich hatte Hilfe von einem Therapeuten und einem Coach, mit denen ich diese Strategien besprechen konnte, mit denen viele Übergriffe bewältigen. Insofern war ich ihnen nicht böse.

Scharf: Ich habe mich sehr einsam gefühlt und habe mich gefragt, warum keine andere auch redet. Später wurde mit klar, wie stark Fellner mit Angst gearbeitet hat. Als ich in die Öffentlichkeit ging, hat mich eine Frau kontaktiert und erzählt, was ihr mittlerweile vor Jahrzehnten passiert ist – und dass sie es noch immer nicht wagt, damit in die Öffentlichkeit zu gehen, nicht mal anonymisiert. Da kann man sich vorstellen, was diese Angst mit einer macht. Ich war dann sehr dankbar, als sich schließlich doch zwei weitere Frauen, Katia Wagner und Angela Alexa, mir angeschlossen haben.

STANDARD: Kommen wir zu den Belästigern oder Gewalttätern. Von der Seite gibt es doch nach wie vor kaum Einsichten, oder wie erleben Sie das?

Scharf: Ich warte bis heute auf eine Entschuldigung, gehe aber gleichzeitig davon aus, dass die niemals kommen wird. Wenn er sich entschuldigen würde, bei mir, Katia Wagner und Angela Alexa, dann wäre das auch eine Entschuldigung an alle anderen Frauen, denen jemals etwas angetan wurde. Aber es wird wohl niemals dazu kommen. Außer, er wird dazu rechtlich verdonnert.

Werdenigg: "Es ist wichtig, jemanden zu haben, der selbst betroffen und auch in ähnlichen Branchen war."
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Was bestärkte Sie, als alle Welt von Ihren Geschichten wusste?

Werdenigg: Bei mir war es in erster Linie der Gedanke an meine Enkeltochter und dass ihr nichts dergleichen widerfahren soll. Bei mir haben sich in der Anfangsphase an die 100 Betroffene gemeldet, die gesagt haben: Mir ist das auch passiert, und mir tut das wohl, Ihre Geschichte zu hören. Das hat mich irrsinnig beflügelt. Irgendwann konnte ich die vielen Telefonate mit Menschen, die jemanden zum Reden brauchten, nicht mehr allein stemmen, und wir schufen mit dem Verein We Together eine Struktur, die das besser auffängt.

Scharf: Mir haben auch Unzählige geschrieben, ich musste mich aber um meinen Prozess und um mich kümmern – ich konnte damals noch nicht helfen. Heute habe ich damit abgeschlossen und kann daher jetzt Unternehmen zu diesem Thema beraten. Und das Feedback ist großartig. Für viele ist es wichtig zu wissen, wie ich heil aus dem ganzen rausgekommen bin.

Werdenigg: Es ist wichtig, jemanden zu haben, der selbst betroffen und auch in ähnlichen Branchen war. Mir braucht niemand erzählen, was in einem Trainingssetting oder einem Turnsaal passiert. Menschen, die zuhören, die Ahnung davon haben – das ist das Ursprüngliche von #MeToo. Nicht, dass man es in die Presse bringt, sondern dass man sagt: "Ich höre dich."

STANDARD: Wo stehen wir fünf Jahre nach #MeToo?

Werdenigg: Es wird sich noch viel tun müssen, und es wird sich auch viel tun. Entscheidend ist, dass wir solche Stellen wie Vera haben. Es gibt verschiedene Sparten, wo es solche Anlaufstellen noch nicht gibt – zum Beispiel für die Medienbranche, für Soldatinnen und viele andere Berufe. Wenn betroffene Menschen darüber sprechen, ist der Tabudeckel weg. Wir wissen, sobald über etwas geredet wird, passieren auch viel weniger Übergriffe – im Sport sogar bis zu 50 Prozent weniger. Sobald ein Verein präventiv tätig ist, sind sich potenzielle Täter bewusst, dass ihnen auf die Finger geschaut wird.

Scharf: Wir sind noch lange nicht dort, wo wir hinsollten. Ich habe aber schon das Gefühl, dass gerade bei jungen Männern ein Umdenken stattfindet, sie sind deutlich mehr sensibilisiert auf diese Thematik. Andererseits habe ich bei meinem Vorträgen noch immer mit Männern zu tun, die meinen, sie wüssten nicht mehr, ob sie je wieder mit einer Frau in einen Lift steigen könnten. (Beate Hausbichler, 15.10.2022)