Es war die denkwürdigste Stabsübergabe, die Italiens kleine Parlamentskammer je erlebt hat: Die 92-jährige Auschwitz-Überlebende Liliana Segre leitete als Alterspräsidentin die erste Sitzung des neugewählten Senats und schilderte mit bewegten Worten, wie sie als siebenjähriges Mädchen im Oktober 1938 in Mailand von den Faschisten von der Schulbank abgeführt und später nach Deutschland deportiert wurde. Dass sie jetzt, hundert Jahre nach der Machtergreifung von Benito Mussolini und den Schrecken der Diktatur, für einen Tag der kleinen Kammer vorstehen dürfe, "lässt mich fast schwindelig werden", erklärte die betagte Senatorin.

Dann verkündete Segre den Namen des neuen Senatspräsidenten: Ignazio La Russa, Mitglied der postfaschistischen Fratelli d'Italia, der Partei von Giorgia Meloni. Als La Russa den Präsidentensessel erklomm, übergab er Segre einen großen Strauß weißer Rosen.

Weiße Rosen für die Auschwitz-Überlebende.
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Ignazio La Russa ist ein Urgestein der italienischen Rechten und einer der schrägsten Vögel in dem an skurrilen Figuren nicht armen Römer Politikbetrieb. Der heute 75-jährige gebürtige Sizilianer und Wahlmailänder ist vor dreißig Jahren zum ersten Mal ins Parlament gewählt worden, damals noch als Mitglied des postfaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI). Zusammen mit Gianfranco Fini gründete er kurz darauf die Partei Alleanza Nazionale (AN), die Fini 1995 am Parteikongress von Fiuggi südlich von Rom auf den demokratischen Rechtsstaat verpflichtete.

Fini bezeichnete damals den Faschismus als "das absolut Böse". Unter Silvio Berlusconi wurde die AN Regierungspartei; von 2008 bis 2011 war La Russa Verteidigungsminister. 2012 gehörte er zusammen mit Giorgia Meloni zu den Gründern der Fratelli d'Italia. Von Beruf ist er Rechtsanwalt.

Raucherstimme, Grimassen und böse Scherze

La Russas Markenzeichen sind seine kratzige, tiefe Raucherstimme, seine Grimassen, sein Hang zu derben Scherzen und, vor allem, seine unstillbare Lust an der Provokation. So hat er während der Pandemie vorgeschlagen, dass sich die Italienerinnen und Italiener, um Körperkontakt zu vermeiden, mit dem faschistischen "saluto romano" begrüßen sollten, also mit ausgestrecktem rechten Arm. Wirklich ernst gemeint war das aber eher nicht.

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Seine Sammlung an Mussolini-Büsten in seiner Mailänder Wohnung zeigt er gelegentlich auch ausländischen TV-Teams. Ein Senatspräsident und ehemaliger Verteidigungsminister mit Duce-Devotionalien zu Hause: Das ist Provokation pur – und somit eine Rolle, wie sie sich La Russa gar nicht schöner vorstellen könnte.

Die Affinität zum Diktator hat La Russa sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen: Sein Vater war in Catania lokaler Sekretär der faschistischen Partei und Kriegsfreiwilliger gewesen. Als zweiten Vornamen hat La Russa von seinem Vater den Namen Benito erhalten. Bei seinen eigenen Söhnen hat der neue Senatspräsident nicht in die faschistische Mottenkiste gegriffen – vielmehr hat er sich von den nordamerikanischen Indigenen inspirieren lassen: Seine Sprösslinge heißen Antonino Geronimo, Lorenzo Cochise und Leonardo Apache. Heute würde man das wohl kulturelle Aneignung nennen.

Deutscher Schäferhund namens Schranz

La Russa hat es generell mit ausgefallenen Namen: Einer seiner deutschen Schäferhunde hieß Schranz. Vermutlich, weil es so deutsch klingt. La Russas Gehabe, seine Sprüche und Provokationen können für ein nicht-italienisches Publikum nicht anders als hochgradig irritierend und inakzeptabel wirken. Und auch in Rom halten ihn nicht wenige Parlamentarier der Linken und der Mitte für politisch zu problematisch und zu wenig staatstragend für sein neues Amt – der Senatspräsident ist in der Hierarchie des italienischen Institutionen immerhin die Nummer zwei nach dem Staatspräsidenten.

Andererseits gilt La Russa trotz allem als verlässlicher Demokrat. Dass er nicht als harter, unverbesserlicher Duce-Nostalgiker wahrgenommen wird, belegt auch die Tatsache, dass mindestens 17 Parlamentarier der Opposition für ihn gestimmt haben. In seiner Antrittsrede versicherte La Russa, dass der 25. April, der Tag der Befreiung vom Nazifaschismus, auch unter der neuen Regierung gefeiert werde. Das hatte sich Liliana Segre zuvor in ihrer Rede ausdrücklich gewünscht. (Dominik Straub aus Rom, 14.10.2022)