Die Politik muss bei den Mindestlöhnen ansetzen, sagt der Soziologe Jörg Flecker von der Uni Wien im Gastkommentar. Staatliche Zuschüsse verpuffen zu schnell.

"Die große Ungleichheit zwischen dem Paketzusteller und dem Eigentümer von Amazon regt wenige auf", sagt der Soziologe.
Zeichnung: Kittihawk / http://www.kittihawk.de

Schon vor der aktuell hohen Inflation waren in Österreich hunderttausende Vollzeitbeschäftigte von "Armut trotz Arbeit" betroffen. Nun bringen die sprunghaft gestiegenen Preise verschärfte Notlagen für viele Haushalte und soziale Verletzlichkeit für zusätzliche Erwerbstätige. Dadurch wird eines offensichtlich: Die Einkommensverteilung und insbesondere die Existenz eines großen Niedriglohnbereichs machen es erheblich schwieriger, die Energie- und Teuerungskrise zu bewältigen. Das Problem über staatliche Zuschüsse zu lösen kann nur die zweitbeste Lösung sein, wie die aktuelle Diskussion über Treffsicherheit und Finanzierbarkeit zeigt. Die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft wäre von vornherein größer, wenn alle so viel verdienten, dass sie solche Preissprünge bei Energie und Lebensmitteln einigermaßen bewältigen können. Davon sind wir angesichts von Armut und Niedriglöhnen weit entfernt.

Hier kommen die Kollektivverträge ins Spiel, mit denen Untergrenzen für Löhne und Gehälter festgelegt werden. In Österreich unterliegen fast alle Dienstverträge einem Kollektivvertrag, wodurch ein Mindestlohn im Großen und Ganzen gesichert ist. Die kollektivvertraglichen Löhne oder Gehälter sind in den verschiedenen Branchen aber unterschiedlich hoch, und diese Unterschiede im internationalen Vergleich überraschend groß. Deshalb gibt es Niedriglöhne bisweilen auch dann, wenn sich die Arbeitgeber an den jeweiligen Kollektivvertrag halten. Und weil Sozialleistungen, wie Arbeitslosengeld oder Pensionen, von den Erwerbseinkommen abhängig sind, setzt sich die Ungleichheit fort und wird die Armutsgefährdung verschärft.

Große Lücke

Zuletzt ist Bewegung in die Mindestlohnpolitik gekommen. So fordert der ÖGB nun 2.000 Euro als niedrigsten Bruttolohn, und das Europäische Parlament hat der EU-Mindestlohnrichtlinie zugestimmt, mit der in allen Mitgliedsländern ein angemessener Mindestlohn erreicht werden soll. Zwar betrifft diese Richtlinie Österreich nicht direkt, weil es hier keinen gesetzlichen Mindestlohn und eine sehr hohe Abdeckung durch Kollektivverträge gibt. Aber wie Wissenschafter des deutschen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts errechnet haben, wäre der in der EU-Richtlinie empfohlene Mindestlohn für Österreich schon im Jahr 2020 bei etwas über 1.900 Euro gelegen. Die EU-Richtlinie unterstützt also die aktuelle Forderung des ÖGB.

Zur Erreichung dieses Mindestlohnziels ist in manchen Branchen aber noch eine große Lücke zu schließen: So liegt der niedrigste Bruttolohn im Friseurgewerbe 2022 bei 1.575 Euro, netto ergibt das 1.280 Euro (ohne Trinkgeld) (14-mal im Jahr). Die Bruttogehälter für Kellnerinnen betragen 2022 mindestens 1.629 Euro, für Verkäufer 1.800 Euro (14-mal). Zum Vergleich: Die Armutsgefährdungsgrenze lag 2021 für eine Erwachsene ohne Kind bei 1.370 Euro netto und mit einem Kind bei 1.780 Euro netto (beides zwölfmal im Jahr). Noch ist es eine offene Frage, wie die Situation der Friseurinnen, Floristinnen, Verkäuferinnen oder Kellner kurzfristig verbessert werden kann. Denn die Gewerkschaften haben in diesen Branchen vergleichsweise wenige Mitglieder, und daher sind Arbeitskämpfe schwer zu führen.

"Fast die Hälfte der Frauen arbeitet in Teilzeit. Und das reicht dann meist nicht zum Leben."

Zuletzt wird deshalb auch in Österreich über die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns nachgedacht, der bisher bei den Gewerkschaften auf wenig Begeisterung gestoßen war, weil seine Höhe immer von der jeweiligen Zusammensetzung des Parlaments und der Regierung abhängig ist.

Die vereinbarten und diskutierten Mindestlöhne sind immer für Vollzeitbeschäftigte gemeint. Aber fast die Hälfte der Frauen arbeitet in Teilzeit mit entsprechend reduziertem Einkommen. Und das reicht dann meist nicht zum Leben. Dazu kommt eine auffällige statistische Regelmäßigkeit: Je höher der Teilzeitanteil einer Branche, umso niedriger sind die Einkommen.

In der Teilzeitfalle

Oft besteht keine Wahl für Arbeitsuchende, weil manche Branchen, wie etwa der Handel oder die sozialen Dienste, überwiegend Teilzeitstellen anbieten. Es muss also auch bei Teilzeitarbeit angesetzt werden. Hier lässt sich eine Anhebung der Einkommen über eine Arbeitszeitverkürzung (für alle) erreichen, wie sie in der Sozialwirtschaft im Jahr 2020 gefordert und in beschränktem Ausmaß vereinbart wurde. Betrüge die Wochenarbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte beispielsweise 32 Stunden (und würden zugleich Niedriglöhne überwunden), wäre das Einkommensproblem für viele Teilzeitbeschäftigte gelöst.

Eine große offene Frage ist die Scheinselbstständigkeit. Wenn Arbeitende keinen Dienstvertrag bekommen, wie beispielsweise viele Paketzusteller, dann gilt für sie kein Kollektivvertrag und kein Mindestlohn. Daher ist die Durchsetzung der arbeits- und sozialrechtlichen Ansprüche aller Beschäftigten und besonders der Migrantinnen und Migranten eine wichtige Voraussetzung dafür, Armut trotz Arbeit zu verhindern. Das Ziel, die niedrigen und mittleren Löhne und Gehälter drastisch anzuheben, macht es erforderlich, die Aufteilung des erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtums auf Löhne und Gehälter einerseits und Kapitaleinkommen, wie Dividenden oder Gewinnentnahmen, andererseits zu diskutieren.

Klassen ansprechen

In der Politik ist man dabei aber mit einem speziellen Fairness-Problem konfrontiert: Arbeitende klagen überwiegend dann über Ungerechtigkeit, wenn jemand in einer ähnlichen Lage wie sie ungerechtfertigterweise mehr bekommt oder auch wenn Arbeitende von ihrem Lohn nicht leben können. Aber die große Ungleichheit zwischen, sagen wir, dem Paketzusteller und dem Eigentümer von Amazon regt wenige auf. Verteilungskämpfe zwischen den sozialen Klassen werden daher nur von wenigen wahrgenommen.

Will man aber Ungleichheit verringern, um die Gesellschaft widerstandsfähiger zu machen, wird man nicht darum herumkommen, die Beziehung zwischen den Klassen einschließlich der krassen Vermögensungleichheit zum Thema zu machen und so die Voraussetzungen dafür zu verbessern, höhere Löhne durchzusetzen. (Jörg Flecker, 16.10.2022)