Wirtschaftsminister Habeck schaffte es, die Mehrheit der Partei hinter sich zu bekommen.

Foto: imago / Malte Ossowski / Sven Simon

An einen gemütlichen Abend im Kreis der Parteifreunde und -freundinnen war für die Grünen-Spitze am Freitagabend nicht zu denken. Zwar war der erste Tag ihres Parteitages in Bonn schon stundenlang und reibungslos gelaufen. Doch am Abend stand dann statt Wein und Häppchen die Bewährungsprobe auf dem Programm. Die Grüne Basis diskutierte über den Atomausstieg.

Eigentlich sollte dieser ja mit 31. Dezember vollzogen werden. An diesem Tag, so der Plan, gehen die letzten drei noch laufenden Meiler vom Netz. Doch dies war schon vor Jahren beschlossen worden. Dann kam der russische Überfall auf die Ukraine, der auch in Deutschland zu Energieknappheit führte.

Gewagter Vorschlag des Wirtschaftsministers

Deshalb hat der grüne Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck vorgeschlagen, zwei AKWs – Neckarwestheim in Baden-Württemberg und Isar 2 in Bayern – noch bis zum 15. April in Reserve zu halten, um die Stromversorgung zu sichern. Doch es war bis zum Parteitag nicht klar, ob die Partei, die ja aus der Anti-Atomkraft-Bewegung entstanden war, dies mittragen würde.

Habeck trat noch einmal selbst ans Rednerpult, hielt sich aber überraschend kurz. Viele wollten ja "zurück zur Atomkraft", erklärte er und betonte: "Das wird auf keinen Fall mit uns passieren." Aber sein Ministerium habe einen Stresstest durchgeführt. Es könne in einem kalten Winter in Deutschland "zu einer Stresssituation kommen". In diesem Fall könne man dann auf die beiden Kernkraftwerke zurückgreifen. Habeck: "Wir sollten diesen Beitrag nicht von vorneherein ausschließen."

Gegenwind für Übergangslösung

Kurz nach ihm sprach der Bundestagsabgeordnete Jürgen Trittin, der als Umweltminister in der ersten rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder (1998 bis 2005) den Atomausstieg verhandelt hatte. Er will keinen Reservebetrieb.

"Atomkraft schafft keine Sicherheit", erklärte er und betonte auch, dass mit Kernkraft keine Versorgungssicherheit gewährleistet werde. "Ganz Europa muss wie bekloppt Strom produzieren", weil die französischen Atomkraftwerke Probleme hätten, so Trittin.

Immer wieder betonten Rednerinnen und Redner, dass niemand sich die Entscheidung einfach mache. Insgesamt blieb die Debatte aber sehr sachlich, es gab keine persönlichen Angriffe.

"Die Netzstabilität ist irrelevant"

Doch es zeigte sich natürlich, dass nicht alle Habecks Meinung sind. "Keine Laufzeitverlängerung und auch kein Streckbetrieb", so lautete die Forderung eines Gegenantrags. "Ausstieg aus dem Ausstieg, nicht schon wieder", rief Karl-Wilhelm Koch aus Rheinland-Pfalz den Delegierten zu. Die beiden Meiler dürften keinen Tag länger als bis zum 31. Dezember laufen. Denn: "Der Strom, den die beiden produzieren, ist irrelevant. Die Netzstabilität ist irrelevant". Vielmehr, so Koch, mit Blick auf mögliche Anschläge auf die kritische Infrastruktur: "Jeden Tag, den ein Atomkraftwerk länger läuft, erhöht die Gefahr in einem Maß, das nicht verantwortbar ist."

Rote Linie: Neue Brennstäbe

Letztendlich folgte dann aber die Mehrheit dem Antrag des Bundesvorstandes und billigte Habecks Vorschlag, die beiden Atomkraftwerke in Süddeutschland in Reserve zu halten. Klar machten die Grünen aber auch, wo ihre "roten Linien" sind: Es dürften keine neuen Brennstäbe mehr angeschafft werden. Diese wären nötig, um die Atomkraftwerke noch regulär bis 2024 laufen zu lassen.

Dies fordert der Koalitionspartner FDP und Führung von Christian Lindner vehement. Der kritisierte am Freitag auch, es sei nicht "hilfreich", wenn die Grünen die Neubeschaffung von Brennstäben als "rote Linie" bezeichneten. Es dürfe in der Frage der Energiesicherheit "nicht um Parteipolitik" gehen.

Mit Lindner muss sich Habeck nun bis zur nächsten Woche einigen. (Birgit Baumann aus Berlin, 14.10.2022)