Zehntausende sind am Sonntagnachmittag in Paris auf die Straße gegangen, um "gegen das teure Leben" zu protestieren. Diesen Slogan – der sich in zweiter Linie auch gegen die "klimatische Tatenlosigkeit" der Regierung richtete – hatte die Allianz der Linksparteien (Nupes) herausgegeben, die den Umzug zum Bastille-Platz organisiert hatte. "Die soziale Wut ist gewaltig", erklärte die grüne Abgeordnete Sophie Taillé-Polian. "Die Französinnen und Franzosen verlieren ständig an Kaufkraft, bereits 15 Prozent sind in Armut verfallen, aber Macron sieht davon nichts."

Neben Sozialisten, Kommunisten, Grünen und den "Unbeugsamen" des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon nahmen auch "Ultra-Gelbwesten" teil, die eher der extremen Linken als der Urbewegung der "gilets jaunes" angehören. Ein Großaufgebot von 2.000 Polizeikräften sicherte den Anlass.

"Wir feuern sie alle und bauen es wieder besser auf", hat dieser protestierende Mann in Paris auf sein Schild geschrieben.
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Mit von der Partie waren auch Vertreter der Gewerkschaft CGT, die seit Tagen fünf der sechs Raffinerien im Land blockiert, um eine Lohnerhöhung von zehn Prozent durchzusetzen. Ein Viertel der 11.000 französischen Tankstellen sind leer, vor den anderen bilden sich teils mehrere hundert Meter lange Autoschlangen. Das Pflegepersonal hat zwar Vorrang, kann sich aber im allgemeinen Chaos kaum durchsetzen. Viele Handwerker und Transporteure haben die Arbeit eingestellt; vereinzelt geht sogar Polizeiwagen oder Ambulanzen der Sprit aus.

CGT will Streiks ausweiten

In der Anfangsphase richtete sich der Volkszorn vor allem gegen die CGT, die ohne jede Kompromissbereitschaft zehn Prozent Gehaltserhöhung verlangt und die Bevölkerung laut Macron-Vertrauten "in Geiselhaft nimmt". Der Konzern TotalEnergies hat dagegen sieben Prozent – plus eine Jahresprämie von bis zu 6.000 Euro – geboten. Die gemäßigten Gewerkschaften wie CFDT und CFE-CGC haben das akzeptiert.

Die ehemals kommunistische CGT hat die Lohnverhandlungen dagegen verlassen. Sie will den Streik möglichst auf andere Sektoren ausdehnen. Für diesen Dienstag ruft sie einen "nationalen Streik" – eine Stufe unter einem Generalstreik – aus. Er könnte auch Atomkraftwerke treffen, die wegen einer Pannenserie teilweise bereits stillstehen. Und er dürfte auch die nationale Bahngesellschaft SNCF erfassen. Viele Erwerbstätige, die mangels Benzin auf den Zug umgestiegen sind, können nur noch zuhause bleiben.

Verschlafene Sozialkrise

Auch wenn immer mehr Franzosen unter der zunehmenden Blockade der privaten und öffentlichen Transportmittel leiden, geben sie laut Umfragen nicht mehr den Raffinerie-Gewerkschaftern die Schuld, und auch nicht dem Konzern TotalEnergies, der im ersten Halbjahr mehr als zehn Milliarden Euro Gewinn eingefahren hatte. Der Volkszorn richtet sich vielmehr gegen die Regierung. Laut Umfrage meinen 82 Prozent der Befragten, die Regierung unternehme "nicht genug". Das ist an sich ungerechtfertigt: Emmanuel Macron hatte den Gas- und Strompreis sehr früh gedeckelt, weshalb die Inflation in Frankreich mit gut sechs Prozent tiefer liegt als etwa in Deutschland oder Spanien. Hingegen hat der Präsident die heraufziehende Sozialkrise ähnlich verschlafen wie vor drei Jahren die der Gelbwesten.

Viele sind wütend, und viele sind gekommen, um diesen Unmut zu teilen.
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Die Opposition hat nur darauf gewartet, gegen den trotz seiner Wiederwahl im April geschwächten Präsidenten zu mobilisieren. Am Sonntag warf auch die Rechtspopulistin Marine Le Pen Macron vor, er sei allein schuld an der Landesblockade, die er nicht vorausgesehen habe. Die Ex-Präsidentschaftskandidatin verlangt wie die Linke die Abhaltung einer Tarifrunde der Sozialpartner unter Leitung der Regierung.

Einigermaßen hilflos versprach Macron am vergangenen Mittwoch, die Tankstellen würden "im Verlauf der nächsten Woche" wieder bedient. Das dürfte ein frommer Wunsch bleiben. Im Gegenteil scheint die Benzinknappheit nur der Auslöser einer breiten Sozialkrise zu sein. Und das in einem Umfeld, in dem die Zeichen ohnehin auf Krise stehen. (Stefan Brändle aus Paris)