Die Neurowissenschafterin Hannah Fitsch gewann den Emma Goldman Snowball Award 2022
Foto: Klaus Ranger

"Ich werde immer wieder gefragt: Hannah, wie passen Soziologie, Politikwissenschaften, Neue Medien und Neurowissenschaften zusammen? Warum studierte ich all diese Fächer? Mich interessiert sowohl, wie der Körper funktioniert, als auch, wie wir in Gesellschaften zusammenleben – immer aus einer feministischen Perspektive. Und das seit meiner Schulzeit. Als ich in den akademischen Kosmos eintauchte, merkte ich schnell, dass mir das nicht genug war. Für mich ist Wissenschaft keine Einbahnstraße, sondern muss im Gespräch bleiben mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und Debatten.

Dafür wähle ich gerne mal unkonventionelle, künstlerische oder aktivistische Wege – drehe Filme, organisiere Festivals, berate Museen und Theater und schreibe Bücher. Mein neuestes Buch mit dem Titel Schönheit des Denkens zeichnet aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive die Geschichte der Computational Neurosciences nach.

Wie haben Methoden und Modelle aus der Mathematik und der Informatik Eingang in die Hirnforschung, in die Vorstellung, wie wir denken, und in das Konzept des freien Willens gefunden? Denn das Bild, unser Gehirn sei ein Computer und der Denkprozess allein eine algorithmische Abfolge in neuronalen Netzwerken, finde ich sehr problematisch. Diesen Trugschluss untersuche ich in meinem Buch.

Dem Gehirn beim Denken zusehen

Mich fasziniert das Gehirn ungemein. Und damit bin ich nicht allein. In den letzten Jahren gab es einen regelrechten ,Neurohype‘. Verständlicherweise, denn es geht um nicht weniger als die Frage, wie wir uns als Menschen sehen und wie wir zu Subjekten werden. Viele Forschende nähern sich dem Gehirn über Krankheiten und Abweichungen und suchen somit gleichzeitig das ,Normgehirn‘. Aber kann es ein ,Normgehirn‘ überhaupt geben? Ich wollte anders an das Thema herangehen und die Logik der Technologien verstehen, die zum Beispiel die aktiven Teile des Gehirns sichtbar machen. Darüber verfasste ich auch mein erstes Buch ... dem Gehirn beim Denken zusehen? Sicht- und Sagbarkeiten in der funktionellen Magnetresonanztomografie und drehte dazu einen Film.

Museen, Film und Sexualität

Mir ist Wissenschaftsvermittlung sehr wichtig. Verbindungen suchen und Übersetzungen schaffen. Deshalb berate ich Museen und Theaterproduktionen mit meinem Wissen über feministische Theorien, Technologien, Bildpraktiken und Ästhetik. Und deshalb bin ich aktivistisch aktiv. Dieses Jahr organisiere ich beispielsweise ein queer-feministisches Festival in Mainz zum Thema Sexualität im digitalen (Sozialisations-)Raum. Was das mit meinen Forschungsschwerpunkten zu tun hat? Nun ja, Sexualität wird in sozialen Netzwerken oder anderen digitalen Räumen sichtbar und gelebt. Wie prägen diese Technologien, die wir dafür verwenden, unser eigenes Verständnis und Verhältnis zu Sexualität? Das Aufdecken gesellschaftlicher Normen und das Sichtbarmachen von Menschen außerhalb dieser gesellschaftlichen ,Norm‘ ist mir insgesamt ein großes Anliegen. Deshalb war ich auch im Gründungsteam des Netzwerks ,Behindert und verrückt feiern – Pride Parade Berlin‘. Hier gehen wir mit Menschen mit Beeinträchtigungen jedes Jahr solidarisch auf die Straße, um gegen Ausgrenzung und Barrieren zu demonstrieren.

Kaum Chance auf Professur

Aber zurück zu meiner wissenschaftlichen Karriere. Wobei – von Karriere kann eigentlich nicht wirklich die Rede sein. Dieses Semester habe ich die Klara-Marie-Faßbinder-Gastprofessur an der Hochschule in Mainz inne. Aber ich versuche bereits seit Jahren, eine feste Professur an einer Universität zu bekommen. Aber das ist alles andere als leicht. Es gibt passenderweise sogar einen Hashtag dazu – #IchBinHanna –, der dieses systemische Problem anspricht. Seit 2021 twittern unter diesem Schlagwort Tausende darüber, dass der Zugang zu Wissenschaft vielen erschwert oder verwehrt wird. Aufgrund der befristeten Verträge rutschen viele wissenschaftliche Mitarbeitende in prekäre Arbeitsbedingungen. Nicht alle können sich das aber leisten.

Rettung durch Technologien kritisch hinterfragen

Nichtsdestotrotz liebe ich meinen Beruf und werde auch weiterhin aus einer feministisch kritischen Sicht die Entwicklungen der Neurowissenschaft beobachten. Denn der Glaube und das Versprechen, dass (vor allem männliche) Genies unsere Welt durch neue Technologien und Innovationen retten werden, teile ich nicht. Oft basieren diese Technologien auf der Idee eines autonomen männlichen Subjekts, fördern konkurrentes Verhalten, sind weder klimafreundlich noch besonders inklusiv. Gerade hier kann die feministische Wissenschafts- und Technikforschung neue Lösungen aufdecken." (Protokoll: Natascha Ickert, 20.10.2022)