Im Ausland, hier im südafrikanischen Pretoria, wird gegen die Luftangriffe in Tigray protestiert.

Foto: AP/Themba Hadebe

In der äthiopischen Bürgerkriegsprovinz Tigray bahnt sich eine humanitäre Katastrophe riesigen Ausmaßes an. Experten sprechen von den "verheerendsten Kämpfen der Welt", die derzeit in der von der Außenwelt abgeriegelten Region toben: Dort stünden sich "bis zu einer Million Soldaten" gegenüber, will der norwegische Äthiopien-Kenner Kjetil Tronvoll vom Oslo New University College wissen. "Das Gemetzel ist schrecklich", so Tronvoll via Twitter: "In den vergangenen Wochen haben bis zu 100.000 Menschen ihr Leben verloren."

"Entsetzt" äußerte sich am Wochenende auch EU-Außenbeauftragter Josep Borrell über die derzeit vor allem im Norden der Provinz gelegene Stadt Shire tobenden Kämpfe. WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus, der selbst aus Tigray stammt, bezichtigte die Regierungen Äthiopiens und Eritreas, die Städte der Provinz mit "Bombenteppichen" zu belegen. Und Samantha Power, Chefin der staatlichen amerikanischen Hilfsorganisation USAID, geißelte die "rücksichtslosen Angriffe" der äthiopischen und eritreischen Streitkräfte mit den Worten: "Das Gewissen der Welt sollte angesichts des erschütternden Verlusts von Menschenleben schockiert sein." Am Wochenende äußerte sich auch US-Außenminister Antony Blinken "zutiefst besorgt" über die "zunehmende Gewalt und wahllosen Angriffe auf Zivilisten" in Tigray.

Angriffe mit Drohnen und Flugzeugen

Weil Journalisten der Zugang zu der Bürgerkriegsprovinz verwehrt ist und die Telefonverbindungen nach Tigray unterbrochen sind, können Details über die dortigen Vorgänge kaum verifiziert werden. Doch die gut unterrichtete Webseite "Crisis in Ethiopia" meldete in den vergangenen Tagen heftige Kämpfe in der Nähe der rund 25 Kilometer von der eritreischen Grenze entfernten Stadt Shire: Das stimmt auch mit Satellitenaufnahmen aus den USA und Berichten von Diplomaten überein. Shire wurde offenbar auch mehrmals von Drohnen und Flugzeugen der äthiopischen Luftwaffe angegriffen. Am Dienstagabend meldete Reuters unter Berufung auf Diplomatenquellen, dass die 100.000-Einwohner-Stadt bereits in die Hände der eritreischen Invasionstruppen fiel. Experten zufolge droht den Truppen der Volksbefreiungsfront Tigrays (TPLF) derzeit der Zusammenbruch.

Menschenrechtsorganisationen befürchten jetzt auch wieder Kriegsverbrechen, die sich eritreische Soldaten bereits bei ihrer ersten Invasion vor knapp zwei Jahren zuschulden kommen ließen: Damals waren bei mehreren Massakern Hunderte von Menschen, auch Kinder und Frauen, getötet worden. Inzwischen befindet sich die Provinzbevölkerung auch in einer äußerst prekären Versorgungslage: Nach UN-Angaben sind über 90 Prozent der knapp sechs Millionen Tigray auf Nahrungsmittelhilfe aus dem Ausland angewiesen. Seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe am 24. August kam jedoch kein Konvoi des Welternährungsprogramms WFP mehr in die Provinz durch: Dort steige die Zahl der Verhungernden stark an, melden Hilfsorganisationen, die ihren Namen aus Angst vor dem Entzug ihrer Arbeitserlaubnis durch die äthiopische Regierung nicht nennen wollen.

Kaum noch Medikamente

Schließlich wird aus Tigray auch der fast völlige Kollaps des Gesundheitssystems gemeldet. Selbst das größte Krankenhaus der Provinz in deren Hauptstadt Mekelle verfügt kaum noch über Medikamente oder für Operationen notwendige Geräte. Krebs- und Dialysepatienten müssten zum Sterben nach Hause geschickt werden, berichtete der Direktor des Ayder-Hospitals, Kibrom Gebreselassie, jüngst dem STANDARD.

Auch können Schwerkranke oder Opfer von Drohnenangriffen nicht mehr mit Krankenwagen ins Hospital befördert werden – die Ambulanzen haben schon lange kein Benzin mehr. Wegen des Treibstoffmangels kann auch das WFP die Lebensmittel nicht verteilen, die sich noch aus Lieferungen vor dem 24. August in einzelnen Lagerhäusern der Provinz befinden. Seit fast zwei Jahren ist auch die Stromverbindung nach Tigray unterbrochen, wegen der Totalblockade sind außerdem die Banken geschlossen.

Verhandlungen verschoben

Für einen Hoffnungsschimmer sorgten vor zwei Wochen Berichte über in Südafrika anberaumte Friedensgespräche. Die Verhandlungen wurden jedoch noch vor ihrem Zustandekommen wieder auf ungewisse Zeit verschoben. Tigrays politische Führung, die Volksbefreiungsfront TPLF, gab am Wochenende ihre Bereitschaft für einen Waffenstillstand und zur Aufnahme der Friedensgespräche bekannt. Und forderte die internationale Gemeinschaft gleichzeitig dazu auf, "entweder einen Waffenstillstand zu erzwingen oder die TPLF bei der Verteidigung Tigrays zu helfen". Die Regierungen in Addis Abeba und Asmara haben sich zu den jüngsten Ereignissen in der Tigray-Provinz bislang nicht geäußert. (Johannes Dieterich, 17.10.2022)