Soziale Rechte dürfen in Österreich nicht länger vernachlässigt werden, erinnern Karin Lukas und Vincent Perle vom Wiener Ludwig-Boltzmann-Institut für Grund- und Menschenrechte in ihrem Gastkommentar.

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Wie steht es um die sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte? Volksanwaltschaft und NGOs fordern eine bessere Absicherung.
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Am 18. Oktober feiert die Europäische Sozialcharta ihren 61. Geburtstag. Sie ist der wichtigste europäische Völkerrechtsvertrag für soziale Menschenrechte und soll unter anderem die Rechte auf Arbeit, Gesundheit und Wohnen garantieren. Annähernd vollständig ratifiziert haben die Charta bis heute jedoch die wenigsten europäischen Länder. Zu den Nachzüglern gehört im EU-Vergleich auch Österreich. In der jüngeren Vergangenheit mehren sich allerdings prominente Stimmen, die mehr Engagement bei der Garantie sozialer Rechte einfordern.

Oft "À-la-carte-Ratifizierung"

Die Europäische Sozialcharta (ESC) bildet das Pendant zur Europäischen Menschenrechtskonvention und gilt vielen als die "soziale Verfassung Europas". Sie geht auf eine Initiative des Europarats zurück, der seit seiner Gründung 1949 die europäische Integration forciert und sich für die Stärkung von Demokratie und Menschenrechten in Europa einsetzt. Anschließend an einen Reformprozess wurde die Sozialcharta 1996 in ihrer revidierten Form verabschiedet. In dieser wurde sie bisher von 35 der 46 Mitgliedsstaaten des Europarats ratifiziert. Eine spezifische Schwäche der Sozialcharta bleibt allerdings auch in ihrer revidierten Form die Möglichkeit einer "À-la-carte-Ratifizierung". So können Vertragsstaaten bei Einhaltung bestimmter Mindestanforderungen mehr oder weniger frei wählen, wie viele und welche Bestimmungen sie ratifizieren. Speziell auf europäischer Ebene führt das zu einer Art Fleckerlteppich.

Gestärkt wurde die Charta im Zuge der Revision hingegen durch die Einführung des Kollektivbeschwerdemechanismus. Dieses einzigartige Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes ermöglicht es beispielsweise Gewerkschaften und NGOs, ihre Beschwerden über vermutete Verstöße gegen die Charta direkt an das zuständige Kontrollorgan, den Europäischen Ausschuss für soziale Rechte, zu richten. Dafür müssen die Vertragsstaaten allerdings ein fakultatives Zusatzprotokoll ratifizieren, was bisher nur 16 Staaten – Österreich befindet sich nicht darunter – getan haben.

Drittstaatsangehörige ausgeschlossen

Österreich hat mit heutigem Stand erst 76 der insgesamt 98 Bestimmungen der revidierten Europäischen Sozialcharta ratifiziert: weniger als die meisten anderen EU-Länder. Nicht völkerrechtlich verbindlich garantiert werden damit unter anderem das Recht älterer Menschen auf sozialen Schutz, das Recht auf Schutz gegen Armut und Ausgrenzung und das Recht auf Wohnen.

Aber auch hinsichtlich der Umsetzung der von Österreich ratifizierten Bestimmungen gibt es Verbesserungsbedarf. So hat der Europäische Ausschuss für soziale Rechte zuletzt bemängelt, dass Drittstaatsangehörige nach wie vor vom vollen Schutz durch das soziale Netz ausgeschlossen sind. Ebenfalls ausständig ist die Ratifikation des Kollektivbeschwerdemechanismus. Darüber hinaus ist Österreich das letzte EU-Land, in dem soziale Rechte nicht in der Verfassung verankert sind.

"Soziale Rechte dürfen nicht länger vernachlässigt werden und müssen jenen Stellenwert erhalten, den auch bürgerliche und politische Rechte genießen."

Eine umfassende Garantie sozialer Rechte ist eine Grundbedingung für einen starken und inklusiven Sozialstaat. Sie schützt die Bevölkerung nicht nur vor strukturellen Schieflagen und sozioökonomischer Ungleichheit, sondern trägt auch dazu bei, die sozialen Folgen von akuten Wirtschafts- und Gesundheitskrisen abzufedern und überproportional negativen Auswirkungen auf ohnehin benachteiligte Gruppen entgegenzuwirken. Die Wichtigkeit eines entsprechenden Schutzes hat nicht zuletzt die Covid-19-Krise mit Nachdruck unterstrichen.

Für Österreich gilt es in dieser Hinsicht einiges aufzuholen. Soziale Rechte dürfen nicht länger vernachlässigt werden und müssen jenen Stellenwert erhalten, den auch bürgerliche und politische Rechte genießen. Um das zu gewährleisten, ist einerseits eine umfassende Ratifikation der revidierten Europäischen Sozialcharta sowie des fakultativen Zusatzprotokolls zum Kollektivbeschwerdemechanismus nötig, andererseits aber auch ein klares politisches Bekenntnis zur besseren Umsetzung von sozialen Rechten.

Schutz vor Rückbau

Positiv zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der gemeinsame Vorstoß der Volksanwaltschaft und zahlreicher NGOs, soziale Grundrechte in der Verfassung zu verankern. Dies würde es dem Verfassungsgerichtshof ermöglichen, deren Einhaltung zu kontrollieren und den Sozialstaat bis zu einem gewissen Grad vor einem Rückbau zu schützen. Das hieße nicht zuletzt auch für jene, die sich an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt wiederfinden, dass sie nicht länger Bittstellende sind, sondern zu Trägerinnen und Trägern durchsetzbarer Rechte werden. (Karin Lukas, Vincent Perle, 18.10.2022)