Gereizte Stimmung in der Ampel: Finanzminister Lindner, Wirtschaftsminister Habeck und Kanzler Scholz (von links).

Foto: EPA / Filip Singer

Es hatte wieder nicht geklappt. Am Montag hätte sich die deutsche Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP eigentlich endlich einigen sollen. Seit Wochen ist ja ungeklärt, wie Deutschland mit seinen letzten Atomkraftwerken weiter verfahren will.

Drei sind noch am Netz: Isar 2 in Bayern, Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg und Lingen im niedersächsischen Emsland. Gemäß dem vor Jahren vereinbarten Atomausstieg sollen alle drei – eigentlich – am 31. Dezember dieses Jahres vom Netz gehen. Doch die FDP fordert angesichts der Energiekrise, dass die drei Meiler weiterlaufen sollen. Die Grünen konnten sich lange mit diesem Gedanken nicht anfreunden – doch sie wollten auch nicht schuld sein, sollte es im Winter zu Versorgungsengpässen beim Strom kommen.

Also unterzog der deutsche Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) die AKWs einem Stresstest und entschied dann: Zwei der drei, nämlich jene in Süddeutschland, sollen bis zum 15. April 2023 im Reservebetrieb weiterlaufen. Dafür hat er sich erst am Wochenende Rückendeckung vom Grünen Parteitag geholt. Die Delegierten folgten seiner Linie, hielten aber gleichzeitig fest, dass das AKW in Niedersachsen eben tatsächlich zum Jahresende vom Netz müsse. Gleichzeitig legten sie "rote Linien" fest: Es dürfen keine neuen Brennstäbe für einen regulären, längeren Betrieb der Meiler angeschafft werden.

Mehrere Gespräche

Die FDP aber, der kleinste Partner in der deutschen Bundesregierung, wollte das nicht akzeptieren, sie möchte alle drei Kernkraftwerke bis ins Jahr 2024 laufen lassen. Mehrere Gespräche zwischen Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz, Habeck und Finanzminister Christian Lindner (FDP) verliefen ergebnislos.

Am Montagabend hatte der deutsche Kanzler dann offenbar die Nase voll und verschickte einen bemerkenswerten Brief an die Kontrahenten. "Ich habe als Bundeskanzler entsprechend Paragraf 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung die nachfolgende Entscheidung getroffen", heißt es darin. Und weiter: "Es wird die gesetzliche Grundlage geschaffen, um den Leistungsbetrieb der Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 und sowie Emsland über den 31. 12. 2022 hinaus bis längstens zum 15. 4. 2023 zu ermöglichen." Die "Richtlinienkompetenz" ist in Artikel 65 des deutschen Grundgesetzes festgelegt. Können sich Mitglieder der Bundesregierung nicht einigen, kann der Kanzler durchgreifen und sagen, wo es langgeht.

FDP lobt Vernunft

Dass nun alle drei AKWs am Netz bleiben sollen, kommt der FDP entgegen. Dementsprechend zufrieden reagierte auch FDP-Chef Lindner: "Es ist im vitalen Interesse unseres Landes und seiner Wirtschaft, dass wir in diesem Winter alle Kapazitäten der Energieerzeugung erhalten. Der Bundeskanzler hat nun Klarheit geschaffen. Die weitere Nutzung des Kernkraftwerks Emsland ist ein wichtiger Beitrag für Netzstabilität, Stromkosten und Klimaschutz."

Auch der liberale Justizminister Marco Buschmann twitterte: "Die Vernunft setzt sich durch." Allerdings muss auch die FDP Kröten schlucken. Denn Scholz hat zwar die gesetzliche Grundlage für den Weiterbetrieb aller drei Meiler angeordnet, aber er nannte auch ein Enddatum: eben den 15. April 2023 – und nicht das Jahr 2024, wie es sich die FDP eigentlich gewünscht hätte.

Geteilte Meinung bei den Grünen

Weniger erfreut zeigten sich die Grünen nach der Anordnung von Scholz. "Wir nehmen zur Kenntnis, dass Bundeskanzler Olaf Scholz seine Richtlinienkompetenz ausübt", erklärten die Fraktionsvorsitzenden Katharina Dröge und Britta Haßelmann. "Wir werden nun mit unserer Fraktion beraten, wie wir mit der Entscheidung des Kanzlers umgehen." Es sei "bedauerlich", dass Scholz und die SPD offenbar bereit seien, das AKW Emsland in den Reservebetrieb zu nehmen, "obwohl es sachlich und fachlich dafür keinen Grund" gebe.

Umweltministerin Steffi Lemke, an die der Scholz-Brief auch gegangen war, versuchte Positives zu sehen und twitterte: "Jetzt herrscht Klarheit: Es bleibt beim Atomausstieg. Deutschland wird zum 15. 4. 23 endgültig aus der Atomenergie aussteigen. Es wird keine Laufzeitverlängerung und keine neuen Brennstäbe geben."

Deutliche Kritik am vorläufigen Weiterbetrieb aller drei Atomkraftwerke kam hingegen vom Grünen-Abgeordneten und ehemaligen Umweltminister Jürgen Trittin: Wenn getroffene Verabredungen seitens der FDP nicht eingehalten würden, und der Kanzler den "Bruch dieser Vereinbarungen" dann per Machtwort durchsetze, dann seien die "Grundlagen einer vertrauensvollen Zusammenarbeit in der Koalition – ich sag es mal so – einem extremen Stresstest ausgesetzt". Es werde sich zeigen, ob die Koalition künftig zusammenarbeitet.

Habeck kann "damit leben"

Mit Spannung wurde vor allem die Reaktion des grünen Bundeswirtschaftsministers und Vizekanzlers Robert Habeck erwartet. Am Montagabend schließlich zeigte sich Habeck in der ARD entgegenkommend und sprach von einer "unüblichen Lösung einer verfahrenen Situation", für die der Kanzler die "maximale Autorität" eingesetzt habe. "Mit der Richtlinienkompetenz des Kanzlers wurde heute ein Weg gezeigt, wie wir da rauskommen", sagte Habeck. "Und das ist ein Weg, mit dem ich gut arbeiten und leben kann." (Birgit Baumann aus Berlin, Gerald Schubert, 18.10.2022)

Video: AKW Zwentendorf: Ein Ort des Scheiterns
DER STANDARD