Flexibel zwischen Jazz und Klassik unterwegs: Christian Muthspiel als Dirigent seiner Musik.

Foto: Eckhart Derschmidt

Wer wie Christian Muthspiel seinen 60er, den er am 20. 9. gefeiert hat, zum Anlass nimmt, Rückschau zu halten, kann schon ins Grübeln kommen. Seit 40 Jahren habe er "ohne Unterlass Musik erfunden und interpretiert", dies als Posaunist, Pianist, Dirigent und Komponist im klassischen wie im Jazzbereich. Zweifellos sei dies "ein schönes Gefühl".

Dennoch wohnt da mittlerweile eine kleine Sehnsucht in ihm, "noch einmal etwas ganz anderes anzugehen". Was das wäre, weiß er nicht. Aufgrund seiner Überzeugung, dass "man erst eine Türe schließen muss, damit eine andere aufgehen kann", hat er jedenfalls als öffentlich auftretender Instrumentalist "abgedankt".

Das Neue wird zwar nicht der Kampf gegen die Sparpläne bei Ö1 darstellen. Dennoch ist bei Muthspiel, der schillernde Signations für den Sender geschrieben hat, Frust zu spüren. Als kränkend empfindet er, dass jene Genres, in denen er tätig ist, also Jazz und Neue Musik, als Randzonen "entwertet werden, die es abzustellen gilt". Das sei "ein kräftiger Schlag in die Magengrube", sagt Mutspiel und findet, dass sich die von ORF-Radiodirektorin Ingrid Thurnher ausgegebene Parole "mehr Content statt Köchelverzeichnis" von selbst richte. "Mit jedem Konzertmitschnitt liefern wir zwei Stunden Content."

Eine Combo als Traum

Wir? Das ist zurzeit sein Orjazztra Vienna, das ab Mittwoch mit dem neuen Programm La Melodia della Strada unterwegs ist, das ein Auftragswerk des Grazer Festivals La Strada war. Es ist dies jene Großformation junger Musiker und Musikerinnen (Muthspiel: "Unser Durchschnittsalter, mich als ,alten, weißen Mann‘ ausgenommen, liegt bei 31 Jahren!"), mit der sich Muthspiel einen Traum erfüllt hat.

Als Mitglied des nicht mehr existenten Vienna Art Orchestra hat er einst den Reiz eines zwischen Freiheit und Disziplin tänzelnden Kollektivs schätzen gelernt, dem Mathias Rüegg vorstand. Wie das Großorchestrale bei Muthspiel klingt, lässt sich nun sehr unmittelbar auf Homecoming studieren. Aufgenommen wurde die Einspielung – 2021 wegen Covid – "live without audience" im Porgy & Bess, also ohne Studiotricks.

Ja, und weil Muthspiel eben 60 wurde, legte er (bei Universal) auch mit Diary – Selected Recordings 1989–2022 ein quasi rückwirkend erstelltes musikalisches Tagebuch vor, das Material aus 14 Alben enthält. Partner wie Steve Swallow, Tomasz Stańko, Paul Motian und Bobby Previte verweisen da auf Muthspiels immer auch internationale Ausstrahlung.

Selbige genießt mittlerweile auch das Orjazztra, das mit dem aktuellen Programm "in den fantastischen Bilderwelten eines Federico Fellini schwelgt". Filmszene sieht man jedoch keine. Szenen mögen jazzinspiriert im Kopf entstehen, hofft Muthspiel. (Ljubiša Tošic, 18.10.2022)