Sogar im Vorraum des Großen Schwurgerichtssaal herrschte beim Prozess um den Anschlag vom 2. November strenges Film- und Fotografierverbot. Visuelle Medien und Gerichtskiebitze mussten vor dem Gitter warten.

Foto: Robert Newald

Wien – Ein Faktum steht im Terrorprozess gegen sechs Angeklagte wohl außer Streit: Jede und jeder im Großen Schwurgerichtssaal weiß, was sie oder er am 2. November 2020 kurz nach 20 Uhr gemacht hat. Denn das war der Abend, an dem K. F. in der Wiener Innenstadt vier Passanten erschoss und 23 weitere Menschen verletzte, ehe er selbst von Polizisten getötet wurde. Es war der Abend des Terroranschlags von Wien. F. muss sich vor keinem irdischen Gericht mehr verantworten – die sechs Angeklagten im Alter von 21 bis 32 Jahren dagegen schon.

Acht Geschworene müssen nach mindestens 19 Verhandlungstagen frühestens im Februar 2023 urteilen, ob das Sextett zu den Morden beigetragen hat. Vier von ihnen droht daher lebenslange Haft, nur die beiden damals unter 21-Jährigen können mit maximal 20 Jahren Gefängnis bestraft werden. Oder, wie Verteidiger Manfred Arbacher-Stöger es an die Laienrichter gewandt bodenständig formuliert: "Es geht ja nicht um Falschparken. Es geht um viel – es geht ums Leben."

Fünf der Angeklagten werden am Dienstagvormittag pünktlich um 10 Uhr von vermummten Justizwachebeamten aus der Untersuchungshaft in den Saal geführt. Um 10.04 Uhr nehmen die Geschworenen Platz. Dann instruiert Schriftführerin S. die nationalen und internationalen Medienvertreter und sonstige Interessierte in dem vollen Saal nochmals über die Benimmregeln bei einer Gerichtsverhandlung, ehe der Berufsrichtersenat erscheint und das Verfahren beginnt.

Der erste Verhandlungstag ist den Eröffnungsplädoyers gewidmet. Um den tausende Seiten umfassenden Akt besser verständlich zu machen, hat die Staatsanwältin sogar eine Powerpoint-Präsentation mit Bildern der Angeklagten und den vorgeworfenen Delikten vorbereitet, die während ihres Vortrags auf eine Leinwand projiziert werden. Keine schlechte Idee, weshalb auch hier nun die einzelnen Angeklagten einzeln präsentiert werden.

  • Der Munitionsmann: Der Erstangeklagte ist ein 23-jähriger Kosovare, der als Kind mit der Großmutter nach Österreich gekommen ist. Er war es, der mit Attentäter F. am 21. Juli 2020 in einem Waffengeschäft in der slowakischen Hauptstadt Bratislava erschien, um Munition für ein Sturmgewehr zu kaufen, sagt die Anklägerin. Erfolglos, wie sich zeigte – die Angestellten verweigerten dem Duo den Wunsch, da sie keine Berechtigungskarten vorweisen konnten. Der Erstangeklagte habe aber ganz genau gewusst, worum es ging, schließlich habe der Unbescholtene ab 15 in radikalen Kreisen verkehrt, auf seinem Handy sei auch Terrorpropaganda sichergestellt worden.
    Blödsinn, argumentiert Verteidiger David Jodlbauer. Ja, sein Mandant habe sich als Teenager in der pubertären Findungsphase für den Islam interessiert. Gefallen habe ihm der Ansatz: "Halt dich an diese und jene Gebote, dann wirst du ein glückliches Leben führen." Die "Hardliner", die zu Terror gegen Andersgläubige aufriefen, hätten ihm aber gar nicht gefallen, daher habe er sich wieder von der Szene entfernt. Terrorist F. habe er insgesamt dreimal gesehen. Die Fahrt nach Bratislava stellt Jodlbauer als Zufall dar – die beiden hätten eine Shoppingtour beabsichtigt, wegen des Lockdowns seien aber die Läden zu gewesen, das Waffengeschäft war eines der wenigen geöffneten Unternehmen, daher habe man es besucht. "Der ganze Trip war ein Scheiß", fasst der Verteidiger den Ausflug zusammen und kündigt an, dass der Erstangeklagte sich nicht schuldig bekennen werde: "Er ist weder Mitglied noch Sympathisant des IS."

  • Der enge Freund: Auch der Zweitangeklagte wird von der Staatsanwältin als radikalisierter Anhänger einer fanatischen Auslegung des Islams bezeichnet. Der 21 Jahre alte Österreicher sei einer "der engsten Freunde" von F. gewesen, wirft ihm die Anklägerin vor, er habe ihn am 23. Juni auch begleitet, als F. das später von ihm verwendete Sturmgewehr vom Fünftangeklagten übernahm. Auch bei ihm steht für sie außer Zweifel, dass er wusste, was F. vorhatte – schließlich wurde auch auf seinem Mobiltelefon Terrorpropaganda gefunden. Und er sowie der Drittangeklagte sollen laut Auswertung der Handydaten am Vormittag des 2. Novembers in der Wohnung des Attentäters gewesen sein, um F. zu bestärken. In diesem Fall ist es Verteidiger Manfred Arbacher-Stöger, der die Vorwürfe zurückweist. Sein Mandant sitze seit zwei Jahren unschuldig im Gefängnis, da die Indizienkette der Anklage in sich überhaupt nicht schlüssig sei und er keine Beweise für eine Beteiligung sieht. "Nur, dass er gläubiger Moslem ist, kann man ihm nicht vorwerfen", prangert er an. Einen Besuch in der Attentäter-Wohnung bestreitet Arbacher-Stöger ebenso.

  • Der Mitangeklagte: Der Drittangeklagte kennt das Landesgericht bereits einschlägig. Wurde der heute 23-jährige Österreicher doch im Jahr 2019 von einem anderen Jugendrichter gemeinsam mit F. wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechtskräftig verurteilt. Bei ihm konstatiert die Staatsanwältin, dass er der Einzige sei, der seine Haartracht nicht verändert habe, während die anderen vor Gericht "wie die Klosterschüler" auftreten würden. Neben dem aus den Standortdaten abgeleiteten Wohnungsaufenthalt wirft die Anklägerin dem Drittangeklagten auch vor, er habe auf eine am Nachmittag versendete Abschiedsbotschaft des Attentäters mit "Ye, ye" geantwortet. Und selbst Propagandamaterial weitergeleitet
    Verteidiger Rudolf Mayer konzediert nur Letzteres, jedoch: "Zwischen Schicken und Machen liegen Welten", sieht er keinen Hinweis auf eine Anschlagsbeteiligung. Er kritisiert die Anklägerin, dass sie Dinge als "Beweise" präsentiert, die selbst die Polizei in ihrem Abschlussbericht nur "Indizien" nennt. Er verweist beispielsweise auf Unstimmigkeiten im angeblichen zeitlichen Ablauf: Als der Drittangeklagte angeblich in der Wohnung an der Auswahl von Anschlagszielen beteiligt gewesen sein soll, habe er sich noch am weit entfernten Praterstern befunden. Es seien auch nur Zeugen aufgetaucht, die den Drittangeklagten und den Attentäter gemeinsam im Stiegenhaus reden gesehen haben. Dass er die Wohnung je betreten hat, sei dagegen nicht bewiesen. Die aufmunternde Antwort auf die Attentäter-Botschaft beziehe sich auch auf die darin zitierte Koran-Sure, versucht Mayer dieses Argument zu entkräften.

  • Der Munitionshelfer: Angeklagter Nummer vier soll laut Staatsanwältin den Attentäter nicht nur "fortlaufend bestärkt", sondern sogar ganz konkret zum Anschlag beigetragen haben. Denn seine DNA-Spuren wurden auf Patronen der Tatwaffen gefunden. Der 28-jährige gebürtige Afghane sei im Jahr 2004 eingebürgert worden, recht gesetzestreu habe er sich danach nicht verhalten. Fünf Vorstrafen sammelte der Student zwischen 2012 und 2017 in Wien. Dass er radikalisiert sei, leitet sie auch aus seinem familiären Umfeld ab: Fünf seiner Cousins seien als "Foreign Fighters" für die Terrororganisation "Islamischer Staat" nach Syrien gegangen, vier von ihnen starben dort, einer ist inhaftiert.
    Für Verteidiger Elmar Kresbach ein völlig untaugliches Argument. "Ich weiß nicht, ob das mit den Cousins überhaupt stimmt. Aber die Familie ist groß, und in Österreich gibt es glücklicherweise keine Sippenhaftung", stellt er klar. Seine Vermutung, warum sein Mandant plötzlich eine Rolle spielt: "Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es im Nachhinein unbedingt darum ging, Sündenböcke zu finden." Er spricht an, dass das Wiener Landesamt für Verfassungsschutz die Gefahr durch F. ignoriert habe, und vermutet "politischen Druck", irgendwen für den Anschlag zu verurteilen. "Die Behörden haben übersehen, dass F. eine tickende Zeitbombe ist", ist Kresbach überzeugt. Ebenso ist er sich sicher, dass die DNA-Spuren über sekundäre Übertragung auf die Munition gekommen seien – der Mandant also mit F. Kontakt hatte, aber nicht am Laden der Waffen beteiligt gewesen sei.

  • Der Waffenhändler: Der mit 32 Jahren älteste der Männer ist der fünftangeklagte Tschetschene. Er kam im Jahr 2003 nach Österreich und fiel in dieser Zeit den Verfassungsschützern nie auf, gibt die Staatsanwältin zu. Er sei es aber gewesen, der F. im Juni und September die Tatwerkzeuge – das Sturmgewehr, die Pistole und die dazugehörige Munition – verkauft haben soll. Außerdem sei der einmal Vorbestrafte wie auch andere Angeklagte zeitweise von einer Securityfirma beschäftigt worden, daher habe er gewusst, in welchen Kreisen er sich bewege, meint die Anklägerin. Sie ist sich anhand von Handydaten und DNA-Spuren an der Munition auch sicher, dass er in der Attentäter-Wohnung gewesen sei und geholfen habe.
    Die Verteidigerinnen Astrid Wagner und Anna Mair führen allerdings Argumente an, die diese Vorwürfe entkräften sollen. Ja, ihr Mandant bekenne sich schuldig, die Waffen besorgt zu haben, kündigt Wagner an. Daher sei es auch kein Wunder, wenn sein Genmaterial sichergestellt worden sei. Doch er hatte keine Ahnung, was damit passieren solle: "Der Waffenhändler ist nicht der Mörder", stellt sie klar. Keiner der fünf Angeklagten kenne ihn persönlich, auch F. sei nur über zwei Mittelsmänner an ihn gekommen. Bei der Standortbestimmung habe die Polizei schlampig und falsch gearbeitet, ist Wagner überzeugt: Denn der 32-Jährige habe sich zwar zur inkriminierten Zeit im selben Gemeindebezirk wie der Attentäter aufgehalten. Sein Mobiltelefon sei aber in einem ganz anderen Sendemast als das von F. eingeloggt gewesen. Und diesen Sendemast habe die Polizei fehlerhaft näher an der Attentäter-Wohnung eingezeichnet.

  • Der Mittelsmann: Der 22-jährige Sechstangeklagte sei laut Staatsanwältin einer der Mittelsmänner für den Waffendeal gewesen. Als er selbst noch in Haft war, soll er von F. über ein ins Gefängnis geschmuggelte Mobiltelefon beauftragt worden sein, sich unter den Mithäftlingen nach einem Lieferanten umzuhören. Der Auftrag verlief erfolgreich, einer der Haftgenossen stellte den Kontakt zum Fünftangeklagten her.
    Für Verteidiger Wolfgang Mekis ist das zu wenig, um als Mitglied einer Terrororganisation zu gelten. Dass er der Mittelsmann gewesen sei, bestreite sein Mandant nicht, aber so wie Angeklagter Nummer fünf habe er nicht gewusst, was damit passieren soll.

Ab 1. Dezember wird mit der Einvernahme der Angeklagten fortgesetzt. (Michael Möseneder, 18.10.2022)