Russische Botschaft in Wien: Große Kulturabteilung mit wenig sichtbarer kultureller Aktivität.

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Wahrscheinlich sind wir ja nur der siebente Zwerg von links. So jedenfalls fasst ein mit zahllosen ausländischen Geheimdienstoperationen erfahrener Offizier des österreichischen Bundesheers die Lage zusammen, in der sich Österreich nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine befindet. Eigentlich habe man in der österreichischen Sicherheitspolitik mit massiven Aktivitäten russischer Dienste in Österreich gerechnet, nachdem die EU mit Sanktionen auf die russische Invasion in der Ukraine reagiert hat.

Überraschenderweise seien diese ausgeblieben. Und zwar im Cyber-Raum – also im Bereich von über das Internet ausgeführten Angriffen auf die Infrastruktur Österreichs – ebenso wie in jenem heiklen Bereich, in dem die österreichische Gesellschaft im Sinne Russlands unterwandert werde. Zwar gebe es offensichtliche russlandfreundliche Äußerungen im ganz rechten politischen Spektrum – aber zumindest bisher habe sich das nicht in einer breiteren Bewegung abgebildet.

Trolle ausgewandert

Das hätte möglicherweise damit zu tun, dass Russland die Kapazitäten fehlen, sich ausgerechnet um die österreichische Öffentlichkeit zu kümmern, sagt der Offizier, der nur unter Zusicherung von Anonymität mit dem STANDARD sprechen wollte. So hätten etwa 120.000 russische IT-Mitarbeiter westlich vernetzter Unternehmen Russland in Richtung Armenien verlassen – anders als in der Heimat hätten sie nun keinen Nebenjob als Trolle für Putin mehr.

Anders ist es mit den in Österreich immer noch vorhandenen russischen Diplomatinnen und Diplomaten. Zwar wurden im April vier Mitarbeiter der russischen Botschaft in Wien als "personae non gratae" zur Ausreise aufgefordert – auch Russland wies vier österreichische Diplomaten aus. Noch aber sind rund 50 Personen in Wien, die etwa im Kulturbereich tätig sein sollten – obwohl es gerade dort derzeit keine Aktivitäten gibt. Gänzlich untätig dürften sie aber nicht sein, wird im Bundesheer vermutet, wo man gleichzeitig betont, dass man für diesen Bereich nicht zuständig ist, so lange keine konkreten Aktivitäten gegen Österreich wahrgenommen werden.

Hinter vorgehaltener Hand wird darauf hingewiesen, dass Kulturabteilungen oft genutzt würden, um Nachrichtenoffiziere in ein anderes Land einzuschleusen. Und dass sehr wohl russische Agenten daran mitwirken könnten, Unmut gegen die Regierung und die EU zu schüren. Oder die Ablehnung von Corona-Maßnahmen sowie Verdruss über die Inflation zu einer das politische System untergrabenden Bewegung zu kanalisieren. Aber dazu gebe es keine aktuellen Erkenntnisse.

"Keine Waffenhändler in der Donau"

Auch der Historiker und Geheimdienstexperte Thomas Riegler sieht im STANDARD-Gespräch bislang keine größeren Ereignisse, die auf heimischem Boden stattgefunden hätten – zumindest keine klar erkennbaren. "Es schwimmen jetzt keine ukrainischen Waffenhändler in der Donau", sagt Riegler. Bei der aktuell verhältnismäßig ruhigen Lage handle es sich allerdings um eine Momentaufnahme, wie er betont. Mit zunehmender Dauer des Ukraine-Krieges könnte sich noch vieles ändern: Je stärker der Krieg eskaliere, desto größer werde die Wahrscheinlichkeit für umfassendere Geheimdienst-Operationen.

So sind etwa russische Sabotageakte, um die Versorgungssicherheit mit Energie und Rohstoffen in Europa ernsthaft zu gefährden, denkbare Szenarien. Umso mehr, wenn sie sich nicht direkt nach Russland zurückverfolgen lassen. Grundsätzlich sei Moskau bei seinen nachrichtendienstlichen Tätigkeiten besonders unberechenbar – "und damit spielt man auch bewusst", sagt Riegler.

IT-Mitarbeiter als Spione

Das gelte auch für das gesamte Spektrum von Cyberwar und Informationskrieg. Zwar würde die ukrainische Seite Letzteren für die westliche Öffentlichkeit aktuell erfolgreicher bespielen, sagt der Experte – dies nicht zuletzt dank US-Unterstützung. Gezielte Maßnahmen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, würden aber zum russischen Standard-Repertoire gehören. So auch die Trollarmeen, die in sozialen Medien und Online-Foren weiterhin Debatten im Sinne Russlands beeinflussen und verstärken.

Laut Riegler gehen Schätzungen davon aus, dass rund ein Drittel der russischen Diplomaten auch nachrichtendienstlich tätig ist. Das gelte auch für das technische Personal, wo Geheimdienstoffiziere oft als IT-Mitarbeiter deklariert werden. Zusätzlich zu diesen Spionen "unter offizieller Abdeckung" gebe es noch eine schwer einschätzbare Zahl an "Illegalen", die mit falschen Identitäten und Lebensläufen in andere Länder eingeschleust werden.

Wien als traditionelle Agenten-Drehscheibe

Für russische Spioninnen und Spione gebe es allerdings aktuell ein spezielles Problem, sagt Riegler – nicht nur, aber auch in Österreich: Sie stehen unter enormer Beobachtung. Alle großen westlichen Geheimdienste würden jede auch potenzielle nachrichtendienstliche Tätigkeit Russlands derzeit mit Argusaugen beobachten. "Viele russische Spione werden sich aktuell nur wenig aus dem Umterschlupf wagen, weil ihnen ständig jemand über die Schulter schaut."

Österreich selbst pflegte traditionell stets einen recht zurückhaltenden Umgang mit ausländischer Spionage auf heimischem Boden: Gab es keinen unmittelbaren Nachteil für Österreich, ließ man häufig gewähren. Auch deshalb, so der Historiker, war nicht nur Russland in Wien stets sehr aktiv – sondern auch die großen westlichen Länder. "Und die", sagt Riegler, "operieren derzeit sicher mindestens so viel in Wien wie die Russen". (Conrad Seidl, Martin Tschiderer, 3.11.2022)