Atomstrom darf bei der Lösung der Klimakrise keine Rolle spielen, sagt Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Universität Wien, im Gastkommentar. Auch grüne Klimapolitik alleine reiche nicht.

Die Ikone der globalen Klimabewegung, Greta Thunberg, plädierte jüngst in einem ARD-Interview für eine kurzfristige Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken in Deutschland, wenn dafür keine Kohlekraftwerke reaktiviert werden müssten. Und sie zeigte sich sehr skeptisch gegenüber den Handlungsmöglichkeiten von Politikerinnen und Politikern, auch grünen Parteien in Regierungen. Dabei verwies sie auf langjährige Regierungsbeteiligungen der Grünen in Schweden und kritisierte diese als Fachleute des Greenwashings.

"Wenn sie schon laufen, glaube ich, dass es ein Fehler wäre, sie abzuschalten und sich der Kohle zuzuwenden." Die 19-jährige Aktivistin Greta Thunberg brachte mit diesem Sager Schwung in die deutsche Laufzeitverlängerungsdebatte. Am Montag spielte Kanzler Olaf Scholz schließlich seine Richtlinienkompetenz aus.
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Das Machtwort

Thunbergs Sager zum Atomstrom ist gar nicht so klar, wie er in den Reaktionen darauf scheint. Immerhin sprach sich die schwedische Aktivistin früher gegen Atomenergie aus. Er zeigt ein Dilemma auf: angesichts der aktuellen Energiekrise mit den noch laufenden Reaktoren etwas länger Atomstrom in Deutschland zu generieren, damit dafür weniger klimaschädliche Kohle verstromt werden muss. Den Koalitionsstreit zwischen FDP und Grünen hat Bundeskanzler Olaf Scholz nun mit einem Machtwort entschieden: Bis 15. April 2023 laufen die letzten drei verbliebenen Atomkraftwerke weiter.

Der Atomlobby in Deutschland und den ihr nahestehenden politischen Kräften ist es in den vergangenen Monaten gelungen, die aktuelle Konjunktur zu nutzen, um sich wieder ins Spiel zu bringen. Doch in der Debatte über die Laufzeitverlängerung ist viel Falsches. Machen wir uns nichts vor. Es geht nicht um ein "paar Monate" Laufzeitverlängerung, sondern mit dem Segen der EU um einen Wiedereinstieg in die Atomenergie. Und zwar unter dem Deckmantel des Klimaschutzes und der Versorgungssicherheit.

Ungeeignete Alternative

Gründe dafür, warum Atomkraft ungeeignet als Alternative zu Kohle und Gas ist, liefern etwa die Forschungen von Achim Brunnengräber an der Freien Universität Berlin. Sie zeigen, dass Atomstrom enorme öffentliche Subventionen erfordert, um mit erneuerbaren Energien konkurrieren zu können, und eine Endlagerung, deren Finanzierung weiterhin ungeklärt ist. Dazu kommen unkalkulierbare Sicherheitsrisiken, wie dieser Tage das AKW Saporischschja in der Ukraine abermals zeigt. Vor allem aber: Hinter der zentralisierten Technologie stehen Konzerne mit mächtigen Interessen.

Sicher ist, bei der anstehenden grundlegenden sozial-ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft können fossile Energieträger und Atomstrom keine Rolle mehr spielen. Es muss auf dezentral erzeugte erneuerbare Energie gesetzt werden – und auf einen Rückbau einiger energieintensiver, nicht zukunftsfähiger Branchen sowie der verschwenderischen Lebensweise.

"Veränderung muss von außen kommen."

Gelingt dies mit der Politik als treibender Kraft? Hier ist Thunberg eindeutig. "Niemals" würde sie Politikerin werden wollen, sagt sie, denn: "Veränderung muss von außen kommen." Grundlegende Veränderungen werden aus der Gesellschaft heraus – und oft von Minderheiten – angestoßen. Das ist ja auch die Geschichte der Grünen. Kluge Staatsführung und Parteipolitik nehmen das politische Moment der Klimaproteste auf und institutionalisieren die Veränderungen.

Ökologische Raserei

Aus der Corona-Krisen-Politik, aber auch der aktuellen Energiepolitik lässt sich dazu einiges lernen. Hier wird die Gestaltungsmacht staatlicher Politik greifbar. Ambitionierte Klimapolitik müsste viel mehr die Eigentumsverhältnisse in Klimakillerindustrien wie Flugverkehr und Energiewirtschaft angehen oder eine starke Regulierung des Automobilsektors und der industriellen Landwirtschaft vornehmen.

Doch es scheint bei Grünen eine Art technokratisches Missverständnis zu herrschen. "Wir an der Regierung machen das schon (für euch)." Das bringt durchaus Erfolge, wie das Klimaticket in Österreich oder die aktuell umfangreichen Unterstützungen für den ökologischen Umbau der Industrie. Aber die Gefahr besteht, dass es zu Mitnahmeeffekten kommt und im Zweifelsfall von den Unternehmen dann doch hohe Profite mit fossilen Energien dem ökologischen Umbau vorgezogen werden.

Die Message von Thunberg ist eine andere: "Wir müssen die ökologische Notlage endlich anerkennen. Und wir können die Krise nicht im bestehenden System lösen." Dazu bedarf es ganz anderer institutioneller Politik, aber vor allem Druck aus der Gesellschaft. Nicht nur als Protestbewegung, sondern als große Verweigerung von immer mehr Menschen, einen Alltag nicht mehr mitzumachen, der de facto ökologische Raserei ist.

Mutlose Politik

Am Ende sind es starke zivilgesellschaftliche Bewegungen gegen die Atomenergie gewesen, die zum Nichteinstieg (Österreich) beziehungsweise zum Ausstieg (Deutschland) führten. Die Kritik an der Atomenergie war immer auch eine an den damit verbundenen wirtschaftlichen Interessen, der Macht der Energiekonzerne und anfangs mutloser Politik. Letztere musste dazu gezwungen werden, sich mit mächtigen Wirtschaftsinteressen anzulegen.

"Eine andere Form des Wohlstands."

Auch jenseits der falschen Alternative Atom oder Kohle geht es darum, dass Energiesparen politisch organisiert wird: eben über den Rückbau bestimmter Industrien und bewusst gesetzte Grenzen für eine verschwenderische Lebensweise. Ein Beispiel: nicht nur ein paar Einfahrtsbegrenzungen für den ersten Bezirk in Wien, sondern drastische Reduktion des Automobilverkehrs insgesamt. Das muss nicht unbedingt mit Wohlstandsverlusten einhergehen, wie oft behauptet wird. Autobefreite Städte und erschwingliche ökologische Lebensmittel für alle sind eine andere Form des Wohlstands.

Greenwashing?

In der Zeitschrift Nature Sustainability wurde Ende September eine Studie veröffentlicht, der zufolge seit 1990 das reichste ein Prozent der Weltbevölkerung 23 Prozent der Emissionen verursachte und die unteren 50 Prozent gerade einmal 16 Prozent. Das bedeutet, gesellschaftlich organisiertes Energiesparen und der Rückbau bestimmter Branchen haben viel mit Ungleichheit zu tun – und mit Macht.

Thunberg bezeichnet die Grünen in den früheren schwedischen Regierungen als Expertinnen und Experten des Greenwashings. Das würde ich dem grünen Regierungspartner in Österreich nicht unterstellen, der den sozial-ökologischen Umbau ja will. Aber es ist immer die Gefahr, wenn sich die Politik nicht traut, mächtige Interessen zurückzuweisen. (Ulrich Brand, 19.10.2022)