Bub oder Mädchen? Hauptsache gesund! Oder?

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"Bitte ein Mädchen, bitte ein Mädchen", denkt Sabine*, während der Gynäkologe mit dem Ultraschallgerät über ihren Kugelbauch fährt. Konzentriert blickt er auf den danebenstehenden Monitor. Auch Sabines Mann ist dabei. Alle schweigen gespannt, bis der Arzt die Worte spricht, auf die das Paar in den letzten 15 Wochen gewartet hat: "Gratulation, Sie bekommen einen Jungen!" Sabines Mann strahlt, der Arzt lächelt. Nur Sabine ist nicht nach Lachen zumute. Eine Trauer überkommt die damals Dreißigjährige. Schon wieder ein Junge? Sie ist fassungslos und am Boden zerstört. Die Enttäuschung über das Geschlecht ihres Kindes überspielt sie. Sie spricht mit niemandem darüber, zu groß ist die Angst, verurteilt zu werden.

"Es gibt Eltern, die können sich gar nicht mehr auf das Baby freuen, wenn es nicht das Wunschgeschlecht hat."

Werdende Eltern haben häufig eine Präferenz für das Geschlecht ihres Kindes. Eine kurze Ernüchterung bei der Ultraschalluntersuchung ist demnach normal, sollte sich ihr Wunsch nicht erfüllen. Doch was, wenn Eltern nicht Vorfreude, sondern Bedrücktheit empfinden? In der Psychologie spricht man dann von "Gender-Disappointment", Geschlechtsenttäuschung. Offizielle Studien zu diesem Thema gibt es bisher nicht. Psychotherapeutin Katrin Hofer begleitet in ihrer Praxis allerdings immer wieder Schwangere und junge Mütter, die leiden, weil ihr Baby das "falsche Geschlecht" hat: "Es gibt Eltern, die können sich gar nicht mehr auf das Baby freuen, wenn es nicht das Wunschgeschlecht hat." In solchen Fällen sei es wichtig, sich professionelle Hilfe zu holen. Gender-Disappointment kann laut Hofer ernste Folgen haben: "Im schlimmsten Fall entwickelt sich daraus eine echte Depression." Diese könnte wiederum einen negativen Einfluss auf den Verlauf der Schwangerschaft und die Geburt haben: Frühwehen, Komplikationen bei der Entbindung, später Bindungsprobleme zum Kind und Stillschwierigkeiten.

Scham und Schuldgefühle

Gender-Disappointment ist ein Tabuthema. Den Spruch "Hauptsache gesund" bekommen werdende Eltern irgendwann mit Gewissheit zu hören. Welche Schwangere gibt zu, dass sie sich nicht auf ihr Kind freut, obwohl es gesund ist? "Ich bin oft die Einzige, der sich die werdenden Mütter anvertrauen", sagt Hofer. Die Psychotherapeutin denkt, dass weitaus mehr Eltern davon betroffen sind, als wir vermuten. Sabine ging es damals ähnlich: Nicht einmal ihr Mann oder ihre Freundin wussten Bescheid. "Ich habe mich geschämt, und ich habe mich meinem Baby gegenüber schlecht gefühlt."

Die Ursachen für Gender-Disappointment sind individuell. Das Wunschgeschlecht hat laut Hofer häufig mit der eigenen Identifikation zu tun: "Frauen wünschen sich Mädchen, Männer Burschen." Eine stereotypische Vorstellung des Kindes schwingt meistens mit: die Mutter, die der Tochter hübsche Kleider anziehen möchte, oder der Vater, der mit seinem Sohn Fußball spielen will. Entsteht daraus ein Leidensdruck, hat das immer tiefergehende Gründe: "Meist steckt dahinter eine problematische Vorgeschichte oder ein traumatisches Erlebnis." So war es bei Sabine: "In meiner Kindheit gab es viele Konflikte mit meiner Mutter. Die wiederum hatte auch kein gutes Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter." Sabine wünschte sich deshalb eine Tochter, um es besser zu machen, um sich mit etwas aus ihrer Vergangenheit auszusöhnen. Doch dieser Wunsch wurde ihr nicht erfüllt. Sie bekam drei Söhne. Ein viertes Kind wollten sie und ihr Mann nicht. Weshalb die dritte Schwangerschaft mit einem Jungen sie in eine tiefe Depression stürzte. Begleitet wurden ihre negativen Gefühle von körperlichen Symptomen. Die Schwangere war ständig krank, nahm Medikamente. Dann bekam sie Frühwehen. Heute beschreibt sie die Geburt als "Katastrophe".

"Ein vehementer Geschlechterwunsch der Eltern kann beim Kind später eine Identitätskrise auslösen."

Bleiben Frauen die gesamte Schwangerschaft und darüber hinaus unglücklich, kann dies auch langfristige Folgen für das Kind haben. "Du hättest eigentlich ein Mädchen sein sollen", wird laut Psychotherapeutin Hofer oft sehr unüberlegt ausgesprochen. Das Kind hört dabei: "So wie ich bin, bin ich nicht richtig. Ein vehementer Geschlechterwunsch der Eltern kann beim Kind später eine Identitätskrise auslösen."

Bindung herstellen

In der Therapie mit Schwangeren legt Hofer einen starken Fokus auf die Stärkung des Selbstwertgefühls. Die Betroffenen lernen in erster Linie, dass ihre Gefühle nicht schlecht sind, sondern eine Ursache haben. "Alleine darüber zu sprechen und zu wissen, dass es das Phänomen gibt, bringt den werdenden Eltern Entlastung."

Zur vorgeburtlichen Beziehungsförderung arbeitet Hofer auch mit der Methode der Bindungsanalyse. Dabei wird die Schwangere angeleitet, in den eigenen Körper hineinzuspüren. Sie wandert mit den Gedanken in die Gebärmutter und beginnt ein Gespräch mit ihrem Baby: "Sie unterhält sich mit ihrem Baby, als wäre es schon auf der Welt", sagt Hofer. Studien haben gezeigt, dass die Bindungsanalyse sich positiv auf den Verlauf der Schwangerschaft auswirkt und für weniger Komplikationen während der Geburt sorgt. "Aus der Praxis weiß ich, dass die Methode Frauen dabei hilft, sich besser in Verbindung mit ihrem Kind zu fühlen", sagt Hofer.

Abtreibung und "Sex-Selection"

Während in Österreich Gender-Disappointment ein Tabu ist, werden in anderen Kulturkreisen Kinder abgetrieben, weil sie "das falsche Geschlecht" haben. In Indien und China führt die selektive Abtreibung von Mädchen zu massiven demografischen und sozioökonomischen Problemen. Laut dem State of the World Population 2020 der Uno fehlten im Jahr 2020 in China 72 Millionen Frauen, in Indien knapp 46 Millionen und weltweit 140 Millionen Frauen aufgrund vorgeburtlicher oder späterer Kindestötung.

Abzutreiben, weil einem das Geschlecht nicht passt, ist in Österreich illegal. Dies ist auch der Grund, warum Gynäkologinnen und Gynäkologen erst nach der zwölften Schwangerschaftswoche, also nach dem Fristenablauf eines legalen Schwangerschaftsabbruchs, das Geschlecht verkünden.

Auch die Methode der "Sex-Selection", also der bewussten Geschlechtsauswahl im Rahmen einer künstlichen Befruchtung, ist in Österreich nicht zulässig. Dies gilt auch, wenn dadurch eine schwerwiegende Krankheit vermieden werden soll. Die Auswahl des Geschlechts eines Kindes durch die Selektion der Samenzellen, die für eine IVF oder für eine Insemination verwendet werden sollen, ist nur zur Verhütung schwerwiegender, an das Geschlecht gebundene Erbkrankheiten (z. B. Muskeldystrophie) erlaubt. Wer sich das Geschlecht aussuchen will, muss dafür ins Ausland gehen. Zypern bietet zum Beispiel an, gezielt mit einem Jungen oder mit einem Mädchen schwanger zu werden. Dabei zahlen Paare zu den Kosten der IVF einige Tausende Euro extra.

In der Theorie ist auch in Österreich eine Art von Geschlechtsselektion möglich: Mithilfe von modernen Methoden der Pränatal-Diagnostik kann das Geschlecht des Kindes bereits in den ersten Schwangerschaftswochen festgestellt werden. Die simplen Blut- oder Urintests können teilweise aus dem Internet bestellt werden. Abtreibungen innerhalb der gesetzlich strafffreien Frist können somit durchgeführt werden.

Hofer ist sich sicher: "Ein Schwangerschaftsabbruch, weil das Kind nicht das Wunschgeschlecht hat, löst nicht das Problem." Viel wichtiger sei es, sich Hilfe zu holen und sich anzusehen, woher diese negativen Gefühle kommen." Dabei ginge es nicht nur um das ungeborene Kind, sondern um die eigene psychische Gesundheit.

Die Versöhnung

Ist das Baby erst einmal da, gerät die Geschlechterfrage in den Hintergrund. Die meisten Eltern können sich auf ihr Kind einlassen und sich freuen. Auch bei Sabine folgte nach einer komplizierten Geburt die Erleichterung: "Ich hatte mir solche Sorgen gemacht, dass ich meinen Sohn nicht lieben werde, doch ich liebte ihn vom ersten Moment an!"

Anders war es bei Anna*, damals 36 Jahre alt, als sie Zwillinge bekam. Ein Bub und ein Mädchen, der Wunschtraum aller Eltern. Doch nicht für Anna: "Schon während der Schwangerschaft spürte ich eine Art Ablehnung meiner Tochter gegenüber." Als die Babys dann auf der Welt waren, blieben die negativen Gefühle bestehen. Ihrem Sohn fühlte sich Anna sehr verbunden, die Tochter schien ihr fremd. Doch Anna holte sich Hilfe, Gender-Disappointment zwang sie dazu, endlich einmal genau hinzusehen – gemacht hat sie das in Form von Psychotherapie: "Ich wusste, wenn, ich eine gute Beziehung zu meiner Tochter haben möchte, muss ich jetzt an mir arbeiten." Im Rahmen der Gesprächstherapie landete Anna mitten in ihrer eigenen Kindheit. "Über Generationen hinweg waren in meiner Familie Frauen immer die Opfer, die armseligen Wesen, denen Leid angetan wurde." Unterbewusst hatte Anna demnach das Gefühl, ein Sohn habe es im Leben leichter. "In der Therapie wurde dieses Schema plötzlich sichtbar. Ich hatte die Möglichkeit, es bewusst zu durchbrechen." Heute sagt sie: "Es ist wunderschön, eine Tochter zu haben!" (Nadja Kupsa, 28.10.2022)

*Name wurde auf Wunsch redaktionell geändert.