So könnte ein Neandertaler-Vater mit seiner Tochter ausgesehen haben.
Bild: Tom Bjorklund

Vieles, was wir heute über Neandertaler wissen, machte der diesjährige Medizinnobelpreisträger Svante Pääbo möglich: Die Disziplin Paläogenetik wurde in den vergangenen Jahren massiv weiterentwickelt und enthüllte etwa, dass wir noch heute ein paar Prozent Neandertaler-DNA in uns tragen. Nun ist unter Pääbos Mitbetreuung ein weiterer Meilenstein erreicht worden: Eine Gruppe um Erstautor Laurits Skov vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig veröffentlichte am Mittwoch im Fachmagazin "Nature" die bisher größte genetische Studie einer Neandertaler-Population.

Seit der ersten Rekonstruktion eines Neandertaler-Genoms 2010 wurden bislang erst 18 Genome dieses Menschentyps erfolgreich sequenziert. Das internationale Forschungsteam nahm nun gleich 13 "neue" Genome unter die Lupe. Sie stammen von Männern, Frauen und Kindern aus zwei sibirischen Höhlen, die als östlichste Neandertaler-Gruppe, die bisher gefunden wurde, gelten. Darunter waren sieben männliche und sechs weibliche Individuen. Fünf verstarben bereits im Kindes- oder Jugendalter.

Die alte DNA aus den Knochen und Zähnen sollte die Verwandtschaftsverhältnisse der Individuen aufklären – und, so die Hoffnung, auch Hinweise über das Zusammenleben der Neandertaler-Community liefern.

90.000 Steinwerkzeuge

Bekannt war bereits, dass diese Menschen im Altai-Gebirge im Laufe der Jahrtausende etwa Bisons und Steinböcke jagten. Die Knochen dieser Tiere fanden Forschende der russischen Akademie der Wissenschaften innerhalb der vergangenen 14 Jahre zuhauf in der Chagyrskaya- sowie in der Okladnikow-Höhle. Sie befinden sich nicht allzu weit von der berühmten Denissowa/Denisova-Höhle entfernt, in der eine weitere Kategorie an Menschen entdeckt wurde. Die folglich "Denisova-Menschen" getaufte Gruppe unterscheidet sich von zeitgleich lebenden Neandertalern und modernen Menschen, es wurden allerdings auch gemeinsam Nachkommen gezeugt.

Die Denissowa/Denisova-Höhle ist berühmt für Knochenfunde, die die Menschheitsgeschichte umschrieben: Der Denisova-Mensch war entdeckt. Die Höhle befindet sich im Altai-Gebirge in Südsibirien. Im Umkreis von 100 Kilometern befinden sich auch zwei weitere Höhlen, in denen menschliche Überreste aufgespürt wurden. Diese analysierte ein Forschungsteam nun genetisch.

In den beiden Höhlen, deren Bewohnerinnen und Bewohner in der aktuellen Studie berücksichtigt wurden, erregten neben der beachtlichen Zahl von ungefähr 90.000 Steinwerkzeugen vor allem rund 80 Knochenfragmente die Aufmerksamkeit der Archäologinnen und Archäologen. Sie konnten Neandertaler-Populationen zugeordnet werden, die dort vor etwa 54.000 Jahren lebten.

Bei der Datierung half das mittlerweile an der Universität Wien forschende Paar Katerina Douka und Tom Higham. "Früher dachte man, dass manche der Neandertaler aus der Okladnikow-Höhle zu den jüngsten bekannten gehörten und sie vor etwa 34.000 Jahren lebten", sagt Higham. "Wir konnten zeigen, dass diese Knochen viel älter sind, und zwar zwischen 50.000 und 60.000 Jahre alt." Die neue Forschungsarbeit stellt allerdings auch fest, dass die untersuchten Individuen offenbar keine Denisova-Vorfahren hatten.

Vater und Tochter, Tante und Neffe?

Auf Familienebene erfüllte sich die Hoffnung des Teams: Einige der 13 Menschen lebten zur gleichen Zeit und waren eng miteinander verwandt. So gehörte zur kleinen Stichprobe etwa ein Mädchen, das im Teenageralter verstarb, sowie deren Vater – eine Verwandtschaft ersten Grades also. Ein weiteres Familienpaar stand sich in zweitem Grad nahe, nämlich ein kleiner Junge und eine erwachsene Frau, die seine Großmutter, Tante oder Cousine gewesen sein könnte.

Die Tatsache, dass diese Menschen zur gleichen Zeit lebten, sei besonders spannend, betont Erstautor Laurits Skov: "Das bedeutet, dass sie wahrscheinlich aus der gleichen sozialen Gemeinschaft stammen. Wir können also zum ersten Mal die Genetik nutzen, um die soziale Organisation einer Neandertaler-Gemeinschaft zu untersuchen."

In der sibirischen Chagyrskaya-Höhle wurde der Großteil der Knochen gefunden, die in die aktuelle Analyse eingeflossen sind.
Foto: Bence Viola

Doch auch auf etwas höherer Ebene wurden interessante Erkenntnisse zutage gefördert. So weist Lara Cassidy vom Trinity College Dublin in einem Begleitkommentar darauf hin, dass die Genome auf ein relativ großes Ausmaß an Inzucht hindeuten. Dies gelte aber weniger für die unmittelbaren Vorfahren, sondern dürfte bereits früher im Stammbaum vorgekommen sein: ein mögliches Zeichen für "konsistent kleine Populationsgrößen". Dies passt zu bisherigen Vermutungen, dass Neandertaler meist in Gruppen mit zehn bis 30 Mitgliedern lebten.

Mobile Frauen

In der Studie wird die Kleingruppe mit relativ ähnlichem Genpool von Berggorillas verglichen, die vom Aussterben gefährdet sind. Die Parallele mag skurril anmuten und die Neandertaler in die Nähe von entfernt verwandten Primaten rücken. Doch sie macht auf eine berechtigte Frage aufmerksam: "Offen ist, ob dieses Ausmaß an Inzucht ein allgemeines Problem der Neandertaler war oder ein spezifisches Merkmal von Altai-Populationen, die an einem geografischen Extrem isoliert waren", schreibt Cassidy.

Wie sahen die Interaktionen mit anderen Gruppen aus? Auch hier liefert die Forschungsarbeit neue Erkenntnisse. Offenbar waren es vor allem weibliche Neandertaler, die migrierten und sich wohl den Verbänden ihrer Sexualpartner anschlossen. Die männlichen Vertreter blieben eher in jener Gemeinschaft, in der sie aufgewachsen waren. Darauf deuten Analysen der Y-Chromosomen hin, die in männlicher Linie vererbt werden, im Vergleich mit der sogenannten mitochondrialen DNA, die genetisch von Müttern auf ihre Kinder übertragen wird. Die neue Studie sei der bisher bestechendste Beweis für eine solche "Patrilokalität" unter Neandertalern, schreibt Cassidy. Im Gegensatz dazu würden in heute lebenden Jäger-Sammler-Gemeinschaften oft Männer wie Frauen ihre Communitys wechseln.

Auswanderung aus Europa

In Sachen Migration stellte das Team außerdem fest, dass die Individuen aus der Chagyrskaya- und der Okladnikow-Höhle nicht von früheren Neandertaler-Gruppen abstammen, die schon vor 120.000 Jahren im Altai-Gebirge lebten. Stattdessen seien sie enger mit europäischen Neandertalern verwandt. Ihre Vorfahren dürften also gen Osten ausgewandert sein. Dies passt den Fachleuten zufolge zu den vorgefundenen Steinwerkzeugen: Ähnliche Objekte seien in Deutschland und Osteuropa gefunden worden, die Kulturtechnik wurde also wohl ebenfalls nach Asien mitgenommen.

"Unsere Studie liefert ein konkretes Bild davon, wie eine Neandertaler-Gemeinschaft ausgesehen haben könnte", sagt Benjamin Peter, der die Arbeit gemeinsam mit Svante Pääbo betreute. "Das lässt mir die Neandertaler viel menschlicher erscheinen." Auch wenn sich das komplexe soziale Gefüge vor allem durch die vergleichsweise große genetische Stichprobe nun besser fassen lässt, ist laut Lara Cassidy aber klar: "Die Chagyrskaya-Höhle und andere Stätten in ganz Eurasien haben noch viele weitere Geheimnisse zu bieten." (Julia Sica, 19.10.2022)