Im Gastblog schreibt Gregor Ruttner-Vicht, Pädagoge und Chief Project Officer von YEP – Stimme der Jugend, über die (Un-)Möglichkeiten von Lehrenden, in der momentanen Unterrichtssituation sinnstiftende Arbeit zu vollbringen.

"Nenne mir die zwei ausschlaggebenden Gründe, warum du Lehrerin geworden bist?" – "Juli und August!" Der Witz ist wahrscheinlich genauso alt wie das österreichische Schulsystem und dürfte mit ziemlicher Sicherheit schon Maria Theresia selbst einmal zu Ohren gekommen sein. Und dennoch darf er auch 2022 bei keiner Familienfeier fehlen, wenn dem Großonkel zweiten Grades zu Ohren kommt, dass sich eine der anwesenden Personen für den Lehrberuf entschieden hat.

Anstatt aufzuzählen, was eine Lehrkraft alles an unbezahlter Arbeit macht und was es bedeutet, sich an Abenden und Wochenenden mit der Unterrichtsvorbereitung auseinanderzusetzen, während permanent weitere unangekündigte Verwaltungsaufgaben ins E-Mail-Postfach flattern, wird einfach nur müde gelächelt und genickt – dem Familienfrieden zuliebe.

Um sein sinnstiftendes Potenzial zu entfalten, ist eine Aufwertung des Lehrberufs dringend nötig.
Foto: APA/dpa/Philipp von Ditfurth

"Wer nichts wird, wird Lehrer", um noch eine weitere abgedroschene Phrase zu bemühen. Es ist nun einmal in der allgemeinen Wahrnehmung in Österreich ein selbstverständlicher Beruf – und nicht der wichtigste Beruf des Landes, wie er etwa in Finnland oder Estland bezeichnet wird. In die Medien kommen Lehrende dann, wenn sie auf ihre Arbeitsbedingungen aufmerksam machen. Und das wird in der Regel negativ konnotiert. "Habe du einmal einen richtigen Job! Ich würde auch gerne den ganzen Tag einfach nur auf Kinder aufpassen wollen." Noch so ein Satz, der in keinem Bekanntenkreis fehlen darf.

Sinn in der Arbeit

Kurzer Exkurs in die Sozialarbeit. Auch in dieser Branche mangelt es an ausreichend Unterstützungspersonal und Löhnen, die auch nur ansatzweise im Verhältnis zu der Verantwortung stehen, die mit dem Beruf einhergeht. In der aktuellen Episode des Podcasts "Gemeinwohl-Geplauder" meint etwa Elisabeth Hammer, Co-Geschäftsführerin vom Neunerhaus, dazu: "Alleine zu sagen, man arbeitet im Sozialbereich, da gibt es ach so viel Purpose, ist einfach zu kurz gegriffen." Und da ist er, der Begriff, der in keiner Managementliteratur seit 2020 fehlen darf: Purpose. Eines vorweg, in dem knapp einstündigen Gespräch schafft es Elisabeth Hammer, aus diesem Buzzword eine nachvollziehbare Leitidee für jede Organisation zu machen. So viel Zeit ist an dieser Stelle nicht gegeben, also kurz und knapp: Purpose, das meint in diesem Kontext, permanent Sinn in der eigenen Arbeit zu sehen.

Fast 60 Prozent der jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geben in einer aktuellen Studie der Organisation YEP – Stimme der Jugend an, dass "Impact & Purpose: Etwas machen, das Sinn und gesellschaftliche Wirkung hat" für sie das ausschlaggebendste Kriterium ist, damit sie gerne arbeiten und länger in einem Unternehmen bleiben würden. Jede dritte erwerbstätige Person in Österreich ist unter 35 Jahre alt. Tendenz steigend aufgrund demografischer Entwicklungen. Kein Job der Welt ist sinnstiftender als das Begleiten junger Menschen, die die Zukunft unserer Gesellschaft sind. Und dennoch gibt es einen akuten Mangel an Lehrkräften in Österreich. Die Folge daraus: noch mehr unbezahlte Arbeit für noch weniger Personen in der wichtigsten staatlichen Aufgabe – der Bildung.

Notwendige Veränderung des Bildungssystems

Anstatt mit einer Attraktivierung des Berufsbilds zu kontern, kommen ganz andere Lösungsvorschläge: Überstunden und Studierende sollen gegen gegen den Mangel an Lehrenden helfen. "Alles hängt mit allem zusammen – und Bildung bildet das Fundament", sagt Autorin Alexia Weiss im STANDARD und fordert: "Ziehen wir doch die Notbremse, bevor das System gar nicht mehr funktioniert. Und bauen wir es viel besser, viel zeitgemäßer, viel innovativer – im Sinn der Kinder, im Sinn der Eltern und im Sinn aller im Schulsystem Beschäftigten." Auch hier das Wort "Sinn" – immer und immer wieder.

Wer einmal beruflich mit Kindern und Jugendlichen zu tun hatte, kennt dieses Gefühl von Purpose, von Sinn. Nicht sinnvoll ist es jedoch, Software auf den Klassentablets selbst installieren zu müssen, verschiedene Angebote von Busunternehmen zu vergleichen, um möglichst allen Kindern die Teilnahme an der Exkursion zu ermöglichen (die selbstverständlich über die bezahlte Arbeitszeit der Lehrkraft hinaus dauert), bei Ernstfällen Beratungsstellen zu kontaktieren, weil in der Schule niemand vor Ort ist, der sich darum kümmern könnte, und so weiter und so fort.

Der Purpose im Lehrberuf soll all diese Defizite nicht ausgleichen, im Gegenteil. Er ist der Kern dieses Berufsfelds und als solcher nicht als Verhandlungsmasse zu sehen. Er ist das Einzige, was im österreichischen Bildungssystem nicht veränderbar ist. Alles andere schon. (Gregor Ruttner-Vicht, 20.10.2022)