Will die Wahrheit erzählen: Titelheldin Vera Gemma (li.) an der Seite von Asia Argento.

Foto: Stadtkino Filmverleih

Vera Gemma hat genug von Castings. Sie möchte endlich wahre Geschichten erzählen, "le storie vere", doch der Regisseur, dem sie gegenübersitzt, hat einen Kostümfilm im Sinn, in den sie mit ihrem Gesicht nicht passen würde. Vera hat schon den einen oder anderen kosmetischen Eingriff hinter sich, ihr Schönheitsideal sieht sie in Transmenschen. Als sie dem Regisseur nebenbei erzählt, dass sie Tochter eines berühmten italienischen Schauspielers ist, erwacht plötzlich sein Interesse: Giuliano Gemma ist auch 2022 noch ein Idol, und natürlich muss nun ein Selfie gemacht werden, zur Erinnerung an viele Western, in die Vera auch nicht passen würde.

The Upcoming

Sie ist eine sehr heutige Figur, gemacht in vielerlei Hinsicht, andererseits durch und durch authentisch. Und Tizza Covi und Rainer Frimmel haben ihr nun einen Film gewidmet, der ihre Widersprüche im besten Sinn aufhebt: eine wahre Geschichte, die sich wie von selbst erfindet, in der Wirklichkeit und nicht neben ihr. Ein Dokumentarfilm, ein Porträt, das einen eigenen Begriff von Wahrheit vorschlägt. Als Eröffnungsfilm der Viennale passt Vera in viele Kasterln: eine Verneigung vor dem Heimatland der Festivaldirektorin, eine größere Verneigung vor dem reichen österreichischen Filmschaffen, eine dezidierte Positionierung zu spannenden Formen des Gegenwartskinos, denn Covi und Frimmel arbeiten schon lange in einem Bereich, den man als Pendant zur Autofiktion sehen könnte. Sie machen so etwas wie Dokufiktion, sie lassen vor der Kamera Dinge sich entwickeln, zu denen sie durchaus Anstoß geben. Sie machen also nicht auf distanzierte Beobachter, sondern sind so etwas wie Erlebensbegleiter.

Idee von einer "wahren Geschichte"

In Vera taucht dabei eine Figur wieder auf, die ihr gesamtes Werk bisher geprägt hat: Der Zirkusmann Walter Saabel spielt hier den Chauffeur der Titelheldin. Saabel kennt man aus früheren Filmen von Covi und Frimmel als Messerwerfer, Familienoberhaupt und als tragische Figur in Der Glanz des Tages. Das war bisher das Hauptwerk von Covi und Frimmel, ein großartiger Experimentalfilm, in dem Saabel in Hamburg bei dem Schauspieler Philipp Hochmair auftaucht und eine Verwandtschaft behauptet, die zwischen Zumutung und potenziellem Lebensmenschentum viele Möglichkeiten eröffnet. Der Bühnenstar und der früher starke Mann bilden ein seltsames Gespann, aus dem Covi und Frimmel die schönsten und traurigsten Geschichten erwachsen ließen.

In Vera tritt Saabel beinahe wie ein normaler Schauspieler auf, seine eigene Vorgeschichte spielt keine Rolle. Er ist jedoch verantwortlich für den Moment, in dem der Film seine Idee von einer "wahren Geschichte" auf den Weg bringt. Ein Unfall, den der Chauffeur verursacht, bringt Vera in Kontakt mit dem kleinen Manuel, der sich den Arm bricht. Sein Vater Daniel, über und über tätowiert, arbeitet in einer Werkstatt, die Mamma (für Manuel die Nonna) gehört auch noch zur Familie. An die Stelle der verstorbenen Mutter von Manuel tritt nun Vera, zugleich kommt sie in eine andere soziale Welt, sie hat nun Kontakt zu den Vororten, wo noch Erinnerungen an den Krieg erwähnt werden und wo das Geld knapp ist. Das Wasser muss vom Brunnen geholt werden, weil die Vermieterin dafür Vorkasse verlangen würde.

Kind im Mittelpunkt

Das sind Motive, mit denen Covi und Frimmel direkt an ihre Anfänge anschließen, als sie noch herkömmlicher dokumentarisch arbeiteten. Wobei ihre Porträts aus der Welt der allmählich verschwindenden oder an den Rand gedrängten Zirkusleute von Beginn an auf das Erzählerische hin offen waren. Und schon La Pivellina (mit dem Hans Hurch 2009 die Viennale eröffnete) hatte ein Kind im Mittelpunkt, als einen dramaturgischen Schlüssel zu vielfachen Beobachtungen und Erfahrungen. Das Motiv mit dem Wasser hatte damals eine Entsprechung in den Stromleitungen, mit denen das saisonale Camp der Schausteller und Artisten an die römische Infrastruktur angeschlossen war – ein Motiv von Stabilität im Prekären, auch ein Moment der Entzauberung fellinesker Mythen.

Mit Vera haben Covi und Frimmel nun eine Protagonistin gefunden, die perfekt an der Schwelle zwischen Showbusiness und Alltag positioniert ist. Ihr Film mit und über Vera kann zugleich als Erfüllung wie als Verfremdung eines Traums gesehen werden: Die "Barbie"-Schönheit, die sich als potenziell trans sieht, kommt in einem "nicht binären" Film zu sich, in einem Film, der sich weder auf die Fantasien der Kulturindustrie noch auf dogmatischen Realismus festlegen lassen will. Vera Gemma wird ein Star, weil sie eine Rolle übernimmt, von der sie im Spiel begreift, dass sie immer schon die ihre war. (Bert Rebhandl, 20.10.2022)