Ausgerechnet vor dem Brüsseler Gipfel von Ende dieser Woche treten tiefgehende Differenzen des europäischen Führungspaars offen zutage. Beide Seiten bemühen sich zwar darum, einen Eklat zu vermeiden, die internationale Lage ist dafür zu ernst. Dennoch schafften es Berlin und Paris derzeit nicht, eine gemeinsame Sitzung beider Regierungen abzuhalten. Der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Hebestreit, kündigte an, dass das würdevolle bilaterale Treffen in der ehemaligen Königsstadt Fontainebleau von kommendem Mittwoch in den Jänner vertagt werde.

Die Verschiebung ist wohl ein Novum. Frühere symbolische Regierungszusammenkünfte hatten noch immer wie geplant stattgefunden. Laut Hebenstreit "bedürfen die Abstimmungen noch einiger Zeit". Die Vertagung sei "gemeinsam" beschlossen worden.

Gemeinschaftlich vertagt, heißt es. Die französische Presse ist etwas deutlicher.
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Von französischer Seite gab es vorerst keine offizielle Reaktion. Die französische Presse redet nicht um den Brei herum: Das Hauptproblem sei der von Kanzler Olaf Scholz seit Monaten geplante, unlängst präsentierte europäische Luftabwehrschirm, "European Sky Shield Initiative". Frankreich ist nicht unter den 15 Partnerstaaten, offiziell, weil es bereits eine Raketenabwehr hat. Macron hatte allerdings angeboten, diesen Schirm mittelfristig auf interessierte Länder auszudehnen, um eine breite europäische Abwehrfront gegen russische Angriffe zu bilden. Das dauerte Scholz wiederum zu lange.

Ersatztreffen?

Die Pariser Zeitung "La Croix" schrieb schon vergangene Woche, Scholz errege mit seinem Vorgehen das "Missfallen" Frankreichs. "Le Monde" meinte schlicht, Paris sei "wütend". Denn Frankreich, das über die größte Armee und einzige Nuklearmacht der EU verfügt, kann sich schlicht nicht vorstellen, bei einem gemeinsamen europäischen Verteidigungsprojekt nicht dabei zu sein. Zumal die Briten mit von der Partie sind.

Berlin suchte am Mittwoch zu beschwichtigen, Scholz könnte am kommenden Mittwoch stattdessen in Paris mit Macron zusammentreffen. Warum dann nicht mit dem nötigen Pomp in Fontainebleau? Dass die Franzosen die feierliche Zusammenkunft abgesagt haben, lässt nur darauf schließen, dass Macron damit seinen Unwillen sehr deutlich ausdrücken wollte.

Macron und Scholz könnten auf alternativem Wege aufeinandertreffen.
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Scholz’ Luftschirm-Projekt ist sicher die derzeit gravierendste Streitfrage zwischen Paris und Berlin – aber längst nicht die einzige. Auch bei milliardenschweren Rüstungsprojekten für den gemeinsamen Kampfjet FCAS oder den Panzer MGCS driften die deutschen und französischen Industriellen zunehmend auseinander.

Dass diese sicherheits- und verteidigungspolitischen Themen gerade jetzt aufbrechen, da im Osten Europas Krieg herrscht, macht die Sache nicht besser. Europäische Diplomaten geben zwar zu bedenken, dass Scholz und Macron in der Ukraine einen ähnlichen – ähnlich zurückhaltenden – Kurs fahren. Das gilt namentlich für Waffenlieferungen an die ukrainische Armee und die Haltung gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Indirekte Kriegsfolgen

Die deutsch-französischen Differenzen gehen deshalb nicht direkt auf den Krieg zurück, was verheerend wäre. Sie sind aber eine indirekte Folge. Das zeigt sich auch bei dem Projekt einer europäischen Gaspipeline von Südeuropa Richtung Deutschland. Frankreich will dabei nicht Transferland spielen, wie Macron eher unwirsch bekanntgemacht hat. Das sorgt in Berlin, aber auch in Madrid für Verstimmung.

Macron und Scholz haben deshalb nächste Woche reichlich Gesprächsstoff. Auch persönlich scheint der Funke zwischen dem schweigsamen Kanzler und dem zungenfertigen Präsidenten noch nicht übergesprungen zu sein. In Paris denkt man wehmütig an die Merkel-Ära, wobei auch einige Verklärung mitspielen dürfte. Auch heute gäbe und gibt es in der deutsch-französischen Partnerschaft Positives. Dazu gehört nicht nur, dass beide Seiten in Sachen Ukraine am gleichen Strang ziehen. Während Deutschland Strom nach Frankreich liefert, fließt umgekehrt viel Gas ins Saarland.

Das ändert aber nichts daran, dass sich Frankreich, ein auf seine Armee stolzer EU-Pionier, von einem der wichtigsten europäischen Projekte der letzten Jahrzehnte – dem Luftabwehrschirm – ausgeschlossen fühlt. Der Frust darüber geht so tief, dass ihn Macron nicht einmal zu formulieren mag: Er schweigt zur Vertagung der bilateralen Regierungssitzung. (Stefan Brändle aus Paris, 19.10.2022)