London – Morgens reflektierte die aktuelle Titelseite des Satiremagazins "Private Eye" die Machtverhältnisse in London, wie sie einige Tage lang gegolten hatten. Das Foto zeigt den seit Freitag amtierenden Schatzkanzler Jeremy Hunt im Kabinettssaal gegenüber Liz Truss, die er fragt: "Ob Sie vielleicht meine neue Premierministerin sein möchten?" Viele Kommentatoren teilten die Einschätzung der Magazin-Macher: Truss sei nach gerade sechs Wochen im Amt gescheitert und müsse nun nach der Pfeife des erfahrenen neuen Finanzministers tanzen.

Am Mittwochmittag ließ die immer noch amtierende Regierungschefin ihre Muskeln spielen. "Ich kämpfe und gebe nicht auf", zitierte Truss in der Fragestunde an die Premierministerin den legendären Labour-Strategen Peter Mandelson ("I am a fighter and not a quitter"). Als Zeichen ihrer Entschlossenheit bekräftigte sie ein Versprechen sämtlicher Regierungen seit 2010: Für Rentnerinnen und Rentner, die wichtigste Wählergruppe der seit zwölf Jahren amtierenden Tories, sollen die monatlichen Bezüge auch zukünftig an die Inflation von derzeit 10,1 Prozent gekoppelt sein. Da seien "ich und der Schatzkanzler" derselben Meinung, behauptete die Politikerin. Dem so in die Pflicht Genommenen blieb nur übrig, eifrig zu nicken.

Dabei hatte Hunt auf entsprechende Fragen in den vergangenen Tagen abwartend geantwortet – schließlich soll der neue Mann im Finanzressort die Scherben zusammenfegen, die Truss‘ komplett fehlgeschlagenes Experiment mit schuldenfinanzierten Steuersenkungen hinterlassen hat. Doch dem enormen Druck der zunehmend feindseliger berichtenden Tory-Zeitungen, mit deren jubelnder Unterstützung Truss ins Amt gekommen war, mochte die 47-Jährige nicht standhalten. Nun muss der neue Finanzminister ein neues Milliardenloch in der Staatskasse stopfen.

Innenministerin tritt zurück

Abends entstand eine neue Lücke in der bedenklich wankenden Regierung. Wegen eines minimalen Verstoßes gegen die Regeln korrekter Amtsführung reichte Innenministerin Suella Braverman ihren Rücktritt ein und machte dabei ihre "schweren Bedenken" gegen das Vorgehen ihrer Chefin deutlich. Wer Fehler mache, müsse auch die Verantwortung übernehmen – eine deutliche Anspielung auf Truss, die "Fehler" zugegeben hat, aber im Amt verharrt. "So zu tun, als wäre nichts gewesen, ist keine seriöse Politik", schrieb Braverman, deren Posten der frühere Verkehrsminister Grant Shapps übernimmt.

Der Vertreterin des harten rechten Flügels, selbst Tochter von Einwanderern, ist die Beschränkung weiterer Immigration – immerhin ein Wahlversprechen – zu lasch.

Laut "Guardian" habe Truss zuvor ihre Termine abgesagt und mit Braverman im House of Commons gesprochen. Das Büro der Premierministerin verneinte zwar, dass die Innenministerin aus dem Amt geworfen wurde, äußerte sich aber zunächst nicht weiter zu den Umständen des Abgangs. Der "Guardian" verweist auf eine nicht näher genannte Quelle, wonach der neue Finanzminister Jeremy Hunt hinter dem Abschied aus der Regierung stehe. Erst vergangene Woche war Finanzminister Kwasi Kwarteng auf Drängen von Truss zurückgetreten, da ein geplantes "Mini-Budget" für politischen Wirbel und ökonomische Verwerfungen gesorgt hatte.

Braverman war unter anderem wegen ihres Kurses in der Migrationspolitik umstritten.
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Am späten Mittwochabend brach dann Verwirrung aus. Auch die Fraktionsführung der britischen Regierung war Medienberichten zufolge teilweise zurückgetreten. Laut unbestätigten Berichten legte die für die Einhaltung der Fraktionsdisziplin zuständige Chefeinpeitscherin (Chief Whip), Wendy Morton, ihr Amt kurz nach einer Abstimmung im Unterhaus nieder. Etwas später kam dann das Dementi, die Fraktionsführung sei weiter im Amt. "Die Disziplin bricht zusammen", sagte ein Tory-Abgeordneter der Nachrichtenagentur Reuters zu den Entwicklungen. "So kann es nicht weitergehen."

Viele Versprechen offen

Eine Reihe von Tory-Versprechen wackelt bedenklich, entsprechende Nachfragen beantwortete Truss ausweichend. So steht eine Inflationsgarantie für die Staatshilfen für Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose aus, was die Sozialpolitikerinnen der Tory-Fraktion erbittert. Andere pochen auf ein höheres Niveau der Entwicklungshilfe, die eigentlich 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes BIP betragen soll. Und Verteidigungsminister Ben Wallace sowie sein Staatssekretär haben indirekt mit Rücktritt gedroht für den Fall, dass Truss nicht wie geplant die Verteidigungsausgaben bis zum Ende der Dekade auf drei Prozent des BIP erhöht.

Rebellische Fraktion

Schwierige Entscheidungen, "die einem die Tränen in die Augen treiben", hat Hunt zuletzt angekündigt. Doch besitzen Truss und er überhaupt die Legitimität, um ihre Vorstellungen in der rebellischen Fraktion durchzusetzen? Dort besaß die Nachfolgerin des gescheiterten Premiers Boris Johnson zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit. Neueste Umfragen unter den rund 180.000 Tory-Mitgliedern, die Truss ins Amt gehoben hatten, lassen erkennen: Selbst jene, die sich vom Ziel einer kontinuierlich um 2,5 Prozent wachsenden Wirtschaft durch Steuersenkungen hatten mitreißen lassen, bereuen inzwischen ihre Entscheidung. Ganz zu schweigen von jenen 43 Prozent der Parteimitglieder, die statt Truss den Ex-Finanzminister Rishi Sunak bevorzugten. Dieser hatte schon im Sommer die Ideen seiner Rivalin als "Fantasie-Ökonomie" abgetan.

Genau diesen Begriff verwendete am Mittwoch im Unterhaus Oppositionsführer Keir Starmer. Brutal nahm der Labour-Chef sein Gegenüber ins Visier: Truss‘ "fehlgeschlagenes ökonomisches Experiment auf dem Rücken der Briten" habe Millionen von Hausbesitzern höhere Zinsen beschert. Auf die Versprechungen der Premierministerin sei nicht einmal eine Woche lang Verlass: "Was macht sie eigentlich noch hier?"

Im Unterhaus stand sie Rede und Antwort, doch die Position von Liz Truss wackelt gewaltig.
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Die Frage stellen sich die Briten mit großer Mehrheit auch: In Umfragen erzielt Truss die schlechtesten Zustimmungswerte eines Regierungschefs, ihre Partei (2019: 43 Prozent) kommt gerade noch auf 20 Prozent der Wählerstimmen und liegt damit um bis zu 30 Prozentpunkte hinter Labour. Das hätte im britischen Mehrheitswahlrecht einen Erdrutsch zur Folge, bis zu 200 Tories würden ihr Mandat verlieren.

Diese Aussicht scheint selbst eingefleischte Truss-Gegner zu lähmen. Vorgezogene Neuwahlen gibt es nur, wenn die eigene Fraktion der Premierministerin das Vertrauen entzieht. Aber was käme danach? Die Uneinigkeit über diese Frage hält Truss einstweilen im Amt. (Sebastian Borger aus London, red 19.10.2022)