Matthew Healy (Zweiter von rechts) zitiert sich durch die Popgeschichte.

Dirty Hit

Eine alte Bauernregel lautet, dass es vom Geschmack her völlig egal ist, was man isst. Eine resche Essiggurke und dazu eine zünftige Sachertorte kommen im Magen sowieso zusammen. Das Wichtigste bei der Nahrungsaufnahme ist eine gute Verdauung. Deshalb werden unter anderem auf Farb- und Lackdosen auch Warnschilder angebracht, dass man den Inhalt nicht trinken sollte.

Die britische Band The 1975 setzt diese Erkenntnis auch wieder auf ihrem frischen Produkt Being Funny in a Foreign Language um. Allerdings rumort es magenschonend nicht unten herum. The 1975 kommen mit ihrer Philosophie des "Eat as much as you can" durch die Ohren in unseren Kopf. Ein Ohrwurm ist schlimmer als Bauchweh. Unter dem Motto "Einmal alles, bitte" betreibt der 33-jährige Sänger und Bandchef Matthew Healy seit unglaublichen 20 Jahren ein Bandprojekt, dessen Erfolg auf maximaler Nutzung sämtlicher Ressourcen beruht, die uns die moderne Welt mit Internet und Streaming, Piratenbucht und Filesharing digital zu bieten hat.

The1975VEVO

Abgesehen davon, dass The 1975 auf ihrem letzten, mit 22 Songs und bei 80 Minuten Lauflänge ziemlich vollgestellten Album Notes on a Conditional Form einen schwülstigen Flokati-Ambient-Track namens Streaming zu bieten hatten, konnte man sich darauf inklusiv – und weniger exklusiv – durch ein Gutteil heutzutage gleichberechtigt und ahistorisch gewordener Popstile hören. Nach einer vom Keyboard mit Plinki-di-plonk behübschten Mahnrede von Greta Thunberg durfte sich die in die Breite gehende Zuhörerschaft vor zwei Jahren über die Blechlautsprecher der Taschentelefone konsumistisch bei Deezer, Spotify und Dings austoben wie beim Fast-Fashion-Schweden H&M. Klingt gut, will ich haben. Zehn Mal gehört, weg damit.

Überhaupt zeichnet dies die Arbeit von Matthew Healy und seinem Team auch auf vorangegangenen Arbeiten wie I Like It When You Sleep, for You Are So Beautiful Yet So Unaware of It aus. Breitbeiniger Autofahrer-unterwegs-Rock von Bruce Springsteen wird neckisch mit Autotune-Pop aus der Boyband-Ära kombiniert und für Las Vegas mit Strass und Glitter behübscht. Ländlicher Andachtsfolk vom Lagerfeuer trifft auf zünftigen Country mit Digital-Banjo: "Wenn der Teekessel singt und der Goldteefix duftet…" Zwischendurch säuselt elektronisch gehäckselter, schicker großstädtischer R’n’B. Mitunter rappelt es in der Kiste sogar wie in den 1990er-Jahren in der Zeit des "Intelligent Techno" – und auch steife, ok, bügelfreie Noiserock-Hemden zieht sich die Band zwischendurch gern an.

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Das neue Album Being Funny in a Foreign Language gestaltet sich nun laut Vorlage mit nur elf Songs wesentlich schlanker. Stilistisch erforscht man mit käsigen Synthesizern weiterhin den verhallten und sanft gestalteten Formatradio-Rock der 1980er-Jahre. Es handelt sich um eine heute auch schon wieder durchaus avantgardistisch gedachte Form von mitunter sogar in die Kammer- und Minimal-Musik schielendem Pop, etwa im programmatisch betitelten Song The 1975. Ein Song mit diesem Titel eröffnet übrigens jedes Album von The 1975. Vielleicht sind die pfiffigen Kerlchen von The 1975 als schwarzes Loch der Popgeschichte deshalb weltweit so enorm erfolgreich, weil sie die Techniken des Pastiche und der Collage geschmeidig mit Bombast aus dem Diskonterladen und Copy/Paste zusammendenken. Authentisch ist hier gar nichts. Dies ist die Kunst des Zitats.

1975 endet übrigens der Vietnamkrieg. In Spanien stirbt Diktator Franco. In Österreich wird die Fristenlösung eingeführt. Der weiße Hai läuft in den Kinos, Niki Lauda wird erstmals Weltmeister in der Formel 1. Abba singen S.O.S., Carl Douglas Kung Fu Fighting, Howard Carpendale Deine Spuren im Sand. Hold the Line von Toto wird erst drei Jahre später erscheinen. Auch das erste Album von Ric Ocaseks wunderbarer Band The Cars, die man sofort wiederhören sollte, erscheint erst 1978. Ein Liter Benzin kostet 1975 rund 40 Cent – und die Zeugen Jehovas rechnen in diesem Jahr wieder einmal mit dem Ende der Welt.

Being Funny in a Foreign Language ist ein gutes Album geworden. Es weiß unbedingt zu gefallen. Man vergisst es aber auch rasch. (Christian Schachinger, 21.10.2022)