Wer ist Anne im Café am Heumarkt?, ich habe sie noch nie gesehen. "Anne ist hier, Anne ist hier", sagen alle. Weißt du, wer Anne ist?, frage ich dich. Aber du bist auch erst gekommen. "Die anderen sagen", sagst du, "Anne ist nur kurz hier." Niemand ist lange hier, wenn du mich fragst. Anne hat ein Wiener Gschau, denke ich. Ein glühendes Schuppenkleid schützt sie vorm Vergehen. Im Heumarkt ist wenig los wie immer, wie auch in Wien wenig los ist wie immer, die Billardtische leer, niemand will mehr spielen. Die Vitrine, die altrosa Rüschenvorhänge und das rote, harte Leder der Sitzmöbel. Warum bin ich schon wieder hier? Du setzt dich neben mich, mit zwei Gläsern. Lebt Simon noch in Wien?, frage ich, und du sagst: "Ich denke schon." Aber du hättest auch so lange nichts gehört von ihm. Und Stefanie? "Ja, sie auch." Glaubst du, die bleiben für immer hier? "Niemand bleibt für immer."

Wer in Wien bleibt, wird belohnt. Aber die wenigsten bleiben.
Foto: David Avazzadeh/Connected Archives

Julian vielleicht, denke ich, der wird bestimmt hier sterben. Einmal habe ich ihn besucht – aber gerade kann ich nicht sagen, ob das ein Traum war: Er hatte seine Bettdecke über das Geländer des französischen Balkons geschlagen und das Fenster geöffnet, seine Wollpullover im Einbaukasten verstaut und die Manuskripte auf dem Parkettboden der winzigen Altbauwohnung sortiert – Stapel für Stapel, mit Steinen beschwert, damit der Wind sie nicht davonweht. Der kleine Raum hatte kahle Wände, Bilder aufzuhängen käme ihm blöd vor. Es gibt nur Zweckgegenstände, noch nie hatte er Blumen stehen, nicht einmal, wenn er sie geschenkt bekam.

Sein Bett wird bei Tag ein Diwan, oft schreibt er dort, mit angewinkelten Beinen, auf dem Schoß ein Reißbrett. Wenn er zufrieden ist, tippt er das Manuskript mit einer elektrischen Schreibmaschine ab, die auf einem Klapppult steht, so klein, dass der handgeschriebene Zettel nur dank eines Briefbeschwerers hält und an der Pultkante schlaff herunterhängt. Warum erzähle ich dir das? Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil er der Einzige ist, den ich in Wien kenne, der sicher hier sterben wird. Weil er sich nicht mehr wegbewegen will.

Salz auf dem Tisch

Eine Woche später sind wir wieder im Heumarkt. So schön, dass du es auch geschafft hast, ich weiß, wie viel du arbeitest. Du hast Salz auf den Tisch gestreut und mit dem Zeigefinger Buchstaben hineingefahren. Ich schau dich an. Das ist Wien? Das ist in Wien? Es ist doch niemand mehr hier, außer dir, und mir, und vielleicht noch ein paar anderen, weil sie ein Kind haben hier, und eine Wand eingezogen. Anne ist auch weg. Und Johanna sowieso. Und die kommt auch nicht wieder. Wien baut dich auf, haut dich zam, jagt dich raus. Wien wartet nicht auf dich, nicht einmal auf Billy, er war 23 damals. Und, ist er angekommen? Natürlich nicht. Billy ist jetzt in New York. Er hat mir ein paar Sätze geschenkt. Ich setze mich zu dir. So, dass ich die Tür sehen kann. Ich kann nicht verstehen, wie du es schaffst, mit dem Rücken zur Tür zu sitzen, dich kennen doch alle. Willst du nicht wissen, mit wem du’s zu tun hast? Es macht einen Unterschied, ob du umarmt oder erwürgt wirst. Hast du deine Wohnung im Ersten noch? Wie kannst du dir die leisten? Läuft’s so gut? Ist doch niemand mehr hier, dachte ich? "Irgendwer kommt immer nach", sagst du, "sie sind so gierig, dass sie alles Unreife von den Bäumen pflücken und ihr Gesicht eingraben im grünen Fruchtfleisch, bis sie Bauchweh haben."

Wer bleibt

Seit ich in Wien bin, das muss seit etwa einem Jahr gewesen sein, frage ich mich, ob Wien vielleicht das sein kann, was Paris in den 20ern, New York und London in den 80ern war und Berlin in den 00er-Jahren: ein Ort, an dem die Mieten günstig sind, die Kunstszene groß, ein Ort mitten in Europa, gut angebunden an alle Metropolen dieser Welt. Ein Ort, an dem eine Szene entsteht wie damals in London, mit Bella und Kate und Nick und Jürgen. Bis heute weiß ich es nicht. Ich merke nur, dass es eine gute Stadt ist, dass es einfach gut ist hier. Wenn du hierbleibst, wirst du belohnt, da bin ich mir sicher. Aber nicht viele bleiben. Voreilige Bilanz eines Lieblingsjahres: Marie, noch hier. Johanna, Paris. Paul, wieder hier (überraschend, arbeitet als Nachtwächter, fein). Maša, Berlin (ganz frisch, sie wird’s aber sicher mögen dort), das weiß ich von Daniel, auch seit zwei Jahren dort. Dominic, noch hier. In London hat er einen Satz gelernt: Irgendwas mit der Filmbranche und großen Fischen und kleinen Fischen und lieber ein großer Fisch in einem kleinen Teich blabla.

Hier muss niemand was

Der Ober will die leeren Gläser mitnehmen, aber ich fauche ihn an, lass die stehen, sonst sind wir ja nackt – dann entschuldige ich mich, dass ich so grob war, das ist nicht meine Art. Du bestellst einen Espresso, und ich nehme dein Espressolöffelchen, um im Salz zu fahren. Ich habe so viele Fragen, wo warst du, als wir demonstrierten? / zu wem willst du beten? / schämst du dich häufig? / traust du dich fliegen? / kannst du das spüren? / wann bist du ausgelassen? / kannst du küssen, und wenn nicht, wann hast du’s verlernt? / winkst du zum Abschied? / wo liegt die Grenze zwischen tapfer und töricht? Du sagst nichts. Das Einzige, was schlimmer ist als ganz jung sein, ist normal jung sein, denke ich.

Die Stimmung der Stadt, die lässt sich gut ablesen im Heumarkt: Das Café ist allein deshalb perfekt, weil es abseits liegt, auf der drüberen Seite des Stadtparks, niemand denkt dran, hinzugehen. Niemand muss sich wohlfühlen hier. Niemand muss sich genieren für was. Generell muss sich in Wien niemand für was genieren, das ist so eine Abmachung. Am nächsten Tag kann immer noch alles gerettet werden. Du bleibst nichts schuldig. Der Ober kommt an den Tisch. Kennst du ihn? Er ist der Einzige, der bestimmt bleibt, da bin ich noch sicherer als bei Julian. Er kann nicht anders. Er muss hier sein, er ist berufen. Ober in Wien, das ist kein normaler Job, er ist Trabant und Fürst gleichermaßen, er kann befehlen: Fühlt euch wohl. Niemand hier will ewig leben. Julian. Wenn ihn die Kräfte verlassen, dann will er nachhelfen. Im kalten, schneereichen Winter, eine halbe Flasche Rotwein und eine Packung Schlafmittel, eine geheime Route in den Wienerwald und dann gehen, bis er an einem Seitenstraßerl zusammenbricht. Am nächsten Tag wird ihn ein Arbeiter beim Salzstreuen finden. "Dann ruht die Zeit: steht still über die Zeit hinaus."

"Darf’s noch was sein?", fragt der Ober. Du bestellst noch was, ich zögere, mit den Fingern im Salz. Ich werde weiterziehen, sage ich – wobei das Weiterziehen ein Nachhauseziehen ist. Drei Wohnungen habe ich im letzten Jahr bewohnt. Nirgends wollte ich bleiben. Ich bin so schlecht im Wohnen. Ich bin besser im Reisen, im Vorbeistreifen. Meine Aufgabe ist die des aus der Ferne Winkenden. Mein Bedürfnis nach Geborgenheit ist ebenso wenig konstant wie mein Bedürfnis nach Harmonie. Erkenntnisse interessieren mich überhaupt nicht. Ich nehme einen letzten Schluck und will gehen. Heute ist Samstag. Und morgen ist Sonntag, das wird noch schlimmer. "Wann kommst du wieder?", fragst du. Ich kann nicht wiederkommen, sage ich, ich würde es nicht ertragen, wenn ich wiederkomme, und du bist auch nicht mehr hier. "Ich verspreche, ich bin hier", sagst du. Es wird zu viel versprochen in den Nächten im Heumarkt.

Anne ist in New York. Sie hat mir ein paar Sätze geschenkt. Ich habe Anne noch nie lachen sehen. Alle lacht ihr wenig, alle seid ihr fort. Alle seid ihr berühmt jetzt. Und wenn ich euch folgen könnte, von weit, und oben, mit Überblick, würde ich, von weit, und oben, und mit Überblick, Zucker über euch streuen. (Gabriel Proedl, DER STANDARD, Wien-Magazin, 1.11.2022)