Berüchtigte Entstehungsgeschichte

London in den 1980er-Jahren. Eine junge Frau betritt ein Lokal und verlangt nach einem Drink, der zwei Bedingungen erfüllen sollte: "Wake me up and then fuck me up." Der Bartender, bei dem sie bestellte, war der mittlerweile legendäre Dick Bradsell, die Frau ein Model, das angeblich später zum Supermodel wurde. Wer das war, hat Bradsell nie verraten. Eine häufig kolportierte Kandidatin ist Kate Moss. Dass sie 1983, im zarten Alter von neun Jahren, mit diesen Worten in einer Londoner Bar bestellte, ist aber mit Sicherheit auszuschließen.

Bradsell jedenfalls mischte den gewünschten Drink aus Wodka, Zuckersirup, Kaffeelikör und Espresso und nannte ihn "Wodka Espresso".

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Der Espresso Martini ist wieder populär.
Foto: Getty Images

Der Cocktail wurde populär, und Bradsell verbesserte seine Rezeptur über die Jahre. In den 1990er-Jahren wurde er wie viele Drinks auch im Martiniglas serviert, aus dem Wodka Espresso wurde der "Espresso Martini". Zwei Jahre vor dem Millenniumwechsel servierte Bradsell seinen Drink im neueröffneten berühmten Lokal Pharmacy von Damian Hirst als "Pharmaceutical Stimulant".

Neoklassiker

Langfristig blieb der Name Espresso Martini erhalten. Wegen seiner vergleichsweisen jungen Geschichte gilt er als Neoklassiker unter den Cocktails. Er ist ein zuverlässiger Wachmacher nach einem langen Arbeitstag, vor einer Partynacht – oder kann einfach als Digestif genossen werden. Momentan erlebt er ein Revival, auch in Wiener Lokalen wird er gerne bestellt.

DickBradsellTV

Dick Bradsell, der neben Espresso Martini weitere Cocktails wie den Bramble (Gin, Zuckersirup, Zitronensaft und Brombeerlikör) oder Treacle (Rum, Angostura, Sirup, Apfelsaft) kreierte, starb 2016 mit nur 56 Jahren. Seine Tochter Bea trat in seine Fußstapfen und ist ebenfalls in der Barwelt zu Hause, unter anderem als Jurorin bei Wettbewerben. Schließlich mixte sie schon mit sieben Jahren Drinks auf Partys, gekostet wurden sie von ihrem Vater.

Dan Fellows, zweifacher Weltmeister im Cocktailmixen mit Kaffee, betreibt die Videoreihe "Coffee and Cocktails" auf Youtube, im Frühling dieses Jahres hatte er Bea Bradsell unter dem Motto "The Real Story of The Espresso Martini!" zu Gast. Darin bereitet sie den Cocktail ihres Vaters zu und bestätigt die Story dahinter samt mysteriösem Modelbesuch und auch, dass ihr Vater den Namen des Models ins Grab mitgenommen hätte. Weiters erzählt sie noch etwas Interessantes zur Geschichte des Espresso Martini: An diesem Tag wurde das Lokal mit einer neuen Espressomaschine bereichert. Alles sei voller Kaffeesatzreste gewesen, weil das Personal habe lernen müssen, die Maschine zu bedienen. So entstand die Idee, Espresso zu verwenden.

Drei Kaffeebohnen

Bea Bradsell nimmt für das Rezept ihres Vaters starken Espresso und die Kaffeeliköre Tia Maria und Kahlúa. Dazu kommt Wodka und ein Schuss Zuckersirup. Alles wird mit viel Eis kräftig geschüttelt ("am besten dabei an Expartner oder Expartnerin denken") und dann nur grob abgesiebt ins Glas gegossen – um die Cremigkeit nicht zu zerstören, erklärt sie. Als Garnierung dienen drei Kaffeebohnen, die für Gesundheit, Reichtum und Glück stehen.

Von diesem Rezept gibt es unzählige Variationen. Weltmeister Dan Fellows beispielsweise nimmt für sein Lieblingsrezept neben Wodka noch weißen Rum, zusätzlich fügt er ein wenig Salzlösung hinzu. Ganz besonders wichtig sei jedenfalls die Qualität des Kaffees betont er.

Wandelbarer Wachmacher

Auch Wiener Bars mixen Espresso Martini unterschiedlich: Im Needle wird klassisch Kahlúa und Wodka verwendet, im If Dogs run free kommt Kardamomsirup und Orangenbitter dazu, in Roberto’s American Bar weißer Schokosirup.

Dass es Abwandlungen gibt, störte Dick Bradsell nicht. 2013 meinte er in einem Interview: "Viele Leute haben in den letzten 20 Jahren gute Drinks erfunden, manche gibt es noch, manche sind vergessen. Sie müssen von den Gästen gemocht werden oder etwas anderes haben, warum man sich an sie erinnert. Der Espresso Martini ist ein zuverlässiges Rezept, man kann damit rumspielen, es verändern. Eine einzige Bar hatte 15 Variationen davon auf ihrer Karte, das ist großartig."
(RONDO, Petra Eder, 19.11.2022)