Es ist ein gnädiger Altweibersommertag im Oktober, doch das grelle Sonnenlicht scheint unbarmherzig auf die mächtigen Messingrohre des Gepäckwagens. Ein Fingerabdruck ist auf meinem Pagenwagen dennoch nicht zu entdecken. Er muss wohl schon mehrfach an diesem geschäftigen Freitagnachmittag in der Lobby des Parkhotels Schönbrunn von einem aufmerksamen Geist poliert worden sein.

Schwungvoll, aber lautlos soll der Koffer beim Gast ankommen.
Foto: Heribert Corn

Der erfahrene Hotelpage Süleyman Bektas ist mit einem weiteren voll beladenen Gefährt irgendwo in dem verwinkelten Haus verschollen. Sein Kollege von der Spätschicht geleitet ebenfalls gerade Gäste in eines der mehr als 300 Zimmer. Ich stehe mutterseelenallein mit vier Neuankömmlingen in der großen Halle, blicke auf das leere Wagerl mit einem hohen Berg aus Koffern davor und frage mich: "Soll ich die jetzt etwa alle aufladen und danach aufs Zimmer radeln?" Das wäre der Plan gewesen. Schließlich habe ich mich dazu verpflichtet, einen Tag lang den Aushilfspagen in diesem feinen Hotel in Hietzing zu mimen.

Rätselraten im Grandhotel

Vier Reisende aus dem schönen Tirol, zwei große und zwei kleine, blicken mich erwartungsvoll an. Ich schnappe mir sogleich beherzt das Gepäck der Familie, das mich meinen lässt, man sei auf mehrmonatiger Expedition in der Pampa und nicht ein Wochenende lang in Wien. Der Pagenwagen knarzt, ich schnaufe.

Die vierstellige Zimmernummer auf dem Kärtchen, in dem die Keycard steckt, erscheint mir wie ein unlösbares Zahlenrätsel. Ist das im West- oder Ostflügel des Gebäudes, das 1787 als Jausenstation eröffnet und bis 1908 zum Grandhotel umgemodelt wurde? Und in welchem Stockwerk befinden sich eigentlich die Zimmer mit den 3.000er-Nummern? Der freundliche Rezeptionist, dessen Namen ich mir an meinem einzigen Arbeitstag als Page nicht einprägen werde, hilft sofort weiter: "Im Neubau, zweiter Stock", flüstert er und bildet mit der rechten Hand einen wachelnden Wegweiser.

Noch genauso schwer wie vor 30 Jahren, die Koffer.
Foto: Heribert Corn

Dem Alphamann unter den vier Tiroler Schwerbepackten, vermutlich der Expeditionsleiter, bleibt meine völlige Orientierungslosigkeit nicht verborgen: "Woasch eh, wo ma hinmiassen?", fragt er. Ich nicke betont freundlich und gestehe: "Entschuldigen Sie bitte die Verwirrung, das ist mein erster Tag." Dass es auch mein letzter sein wird, behalte ich für mich.

Großzügiges Trinkgeld

Nachdem die Gäste mit dem Lift und unter meiner Anleitung für den weiteren Weg bis zum Zimmer vorausgefahren sind, bin auch ich mit dem schweren Wagen bei ihrer Tür angelangt und klopfe. "Kimm lei", dringt in westösterreichischem Idiom aus dem Raum. Schon wuchte ich gefühlte zwei Zentner Ausrüstung für den Großstadtdschungel auf die dafür vorgesehenen Ablagen und frage, ob die keineswegs bescheidende Bleibe eh gefällt. Als dies bejaht wird, mache ich kehrt, erhalte zuvor aber noch eine 50 Centmünze in die Hand gedrückt. "Fiers Einkaufswagerl beim Billa", scherzt der Gast und fügt noch an: "Ollesch Guate weitahin!"

Mit diesen Zeilen über "einen Tag als Hotelpage" entsteht hoffentlich kein weiterer, schnöder Selbstversuch, im Sinne von: Jetzt probiere ich das halt auch einmal aus und berichte dann halblustig darüber. Es ist vielmehr eine Reise in die eigene Vergangenheit. Seit ein paar Jährchen beackere ich für den Standard hauptsächlich Reisethemen, vor etwas mehr als 30 Jahren trat ich meinen allerersten Ferienjob an – auch "irgendetwas mit Reise": Ich war damals Hotelpage. Zum frühestmöglichen Zeitpunkt, mit 15 Jahren, übte ich diese Tätigkeit einen Monat lang im Hotel Schillerpark in Linz aus, das ebenfalls zu den Austria Trendhotels gehört, also zur gleichen Hotelgruppe wie das Parkhotel Schönbrunn.

Zuckerl und Bourbon

Da der Job anstrengend war und ist, durfte ich mich frei entscheiden, auch weniger als die erlaubte Maximalarbeitszeit zu arbeiten, die Ruhezeiten musste ich strikt einhalten. Außer der lockeren Arbeitszeitregelung gab es noch einen weiteren Vorteil: Das Schillerpark war damals das beste Haus auf dem Platz und wohl auch in der gesamten Stadt, was gewisse Zuckerln für einen jungen und schmächtigen Gepäckträger bedeutete.

Für das viele Gepäck der großen arabischen Delegationen, die der Stahlkonzern Voest hier unterbrachte, bekam man als Lohndiener – so der österreichische Fachbegriff für einen Pagen – üppige Trinkgeldpauschalen. Für die Schulkollegen, die derweil anderswo ihre ersten beruflichen Erfahrungen sammelten, hatte ich nach Ferienende jede Menge Anekdoten im Gepäck. Joe Cocker lud mich in der Bar des Schillerpark vor einem Konzertauftritt auf meinen ersten Bourbon ein. Natürlich schnupperte ich nur widerwillig dran, auf dass der Jugendschutz dieses Idol nicht bestrafe. With a little help from your friend, dem kleinen Hotelpagen, sozusagen.

Besondere Extrawünsche

Zwei Wochen später schleppte ich surfbrettgroße Kleidersäcke der Beach Boys auf deren Zimmer und gleich im Nachgang dosenweise Katzenfutter in die Nachbarschaft. Der Karikaturist Manfred Deix hatte sich damals als größter anzunehmender Fan der Band auch ein Fünf-Sterne-Zimmer zum Linz-Konzert der Beach Boys gegönnt und war mit einigen Auserwählten unter seinen insgesamt 70 Miezen angereist.

Zu all dem hatte ich im Hotel einen älteren Verbündeten hinter der Rezeption, der mir alles Nötige beibrachte und zum Glück auch viel Unnötiges zur beiderseitigen Belustigung. Kurz: Nie wieder fand ich danach einen unterhaltsameren oder abwechslungsreicheren Ferienjob. Doch nach 30 Jahren wollte ich die ausschließlich positiven Erinnerungen an diese Zeit endlich einmal einem Realitätscheck unterziehen.

Von Kleidersäcken bis Katzenfutter wird alles aufs Zimmer geliefert.
Foto: Heribert Corn

Audienzhotel ohne Barrierefreiheit

Ich treffe Süleyman Bektas auf dem Weg zum barrierefreien Nebeneingang des Parkhotels, in dessen Errichtung die früheren Besitzer Paul Hopfner und die Familie Hübner drei Millionen Kronen investierten, ein Gegenwert von heute rund 18 Millionen Euro. Anlass für den Neubau Anfang des 20. Jahrhunderts war der Mangel an noblen Hotels in Wien, es fehlte der Hauptstadt des Vielvölkerreichs schlicht an exklusiven Zimmern. Vor allem die Gäste von Kaiser Franz Joseph I. nutzten das Parkhotel für ihren Aufenthalt vor und nach Audienzen im Schloss Schönbrunn. An so etwas wie Barrierefreiheit hatte der Architekt Arnold Heymann damals aber nicht gedacht.

Doch an diesem Freitag sind es nicht nur zwei ältere niederländische Frauen im Rollstuhl, die auf den neugeschaffenen Eingang angewiesen sind, sondern auch eine junge Frau mit Kinderwagen, die am bevorstehenden Wochenende in diesem Hotel ihre Hochzeit feiern wird und eine ganze Armada an Buggys erwartet. Bektas ist in diesem Moment alleine mit gleich mehreren Gästen, die alle auf einmal Hilfe benötigen, während ich Koffer vom Taxi über die Stufen vor dem Haupteingang trage. "Wenn du diesen Moment verpasst und der Gast sein Gepäck selbst über die Treppe schleppen musst, braucht er deine Hilfe danach auch nicht mehr", hat mich Bektas noch gewarnt. Gäste, die ihr Gepäck selber tragen, geben natürlich auch kein Trinkgeld. Doch darauf zu verzichten, bedeutet für einen Lohndiener enorme Einbußen beim Gesamteinkommen. Ich frage mich, wie Bektas das an allen anderen Tagen schafft, wenn ich nicht hier bin, um ihm ohnehin nur leidlich zu assistieren?

Einsatzbereite Freundlichkeit

Hoteldirektor Sebastian Siegfried bringt die Anforderungen an den perfekten Pagen auf eine vermeintlich simple Formel: "Du musst eine Grundfreundlichkeit in dir tragen, die du jederzeit und überall einzusetzen bereit bist." Siegfried ist sehr wohl davon überzeugt, dass man diese Herzlichkeit zwar verfeinern, zusätzlich an seiner Körperhaltung arbeiten und viele Tricks wie bei einem Handwerk dazulernen kann. Immerhin ist der Beruf des Pagen etwas, das in keiner Schule gelehrt, sondern immer von Kollegen – und tatsächlich fast nie von Kolleginnen – weitergeben wird. Aber ohne eine gewisse Grundfröhlichkeit im Herzen geht’s halt nicht. Man müsse auch aushalten, dass bei rund 450 Gästen, die ein Page täglich im Parkhotel empfange, immer einige wenige unangenehme Begegnungen dabei sind.

Durch den Ballsaal huscht der Hotelpage nur im Ausnahmefall.
Foto: Heribert Corn

In Summe sieht Siegfried aber die Hierarchien abflachen, immer mehr Gäste begegnen Pagen und anderen Hotelangestellten auf Augenhöhe, weil sie deren Leistung anerkennen und demonstrative Gleichheit dem Zeitgeist entspräche. Während es in anderen Bereichen im Hotel immer schwerer werde, gute oder überhaupt Mitarbeiter zu finden, vergeben sich freie Stellen als Page praktisch von selbst, beobachtet Siegfried. Als ich mit Bektas im großen Ballsaal stehe, verstehe ich auch, warum.

Wandelndes Gästebuch

Der Lohndiener mit kurdischen Wurzeln, der schon in vielen anderen guten Wiener Häusern gearbeitet hat und so ganz nebenbei eine Ausbildung zum Elektrotechniker absolvierte, ist so etwas wie ein wandelndes Gästebuch mit vielen emotionalen Einträgen. Der üppige neobarocke Ballsaal gehört nur selten zum Parkett, auf dem er oft antanzen muss. Außer es fehlen Utensilien bei einer Veranstaltung, oder Gäste möchten im Rahmen einer Führung von ihm in diesen Prunksaal geleitet werden. Das war etwa der Fall, unmittelbar nachdem Bektas 2011 die Tätigkeit im Parkhotel aufnahm.

Eine 80-jährige Britin, die mit ihrer Tochter und den Enkelkindern angereist war, wollte gleich nach der Ankunft, noch bevor sie ihr Zimmer bezog, den Ballsaal besuchen. Bektas, der darüber einigermaßen erstaunt war, führte die Britin sofort hin, worauf sie an einem der runden, stets festlich gedeckten Tische Platz nahm. Sie begann zu erzählen: Ihr Mann, den sie vor 50 Jahren geheiratet habe, sei vor kurzem verstorben. Gefeiert hätten sie ihre Hochzeit in diesem Ballsaal. Bektas servierte daraufhin Champagner, die Dame blieb über eine Stunde mit ihrer Familie in dem großen leeren Saal und feierte still.

Hallo Dienstmann

Es sind selbst erlebte Anekdoten wie diese, die zwischen Dienstbeginn der Frühschicht um 6.30 Uhr und dem Ende der zweiten Schicht um 23 Uhr passieren und die die beiden einander abwechselnden Lohndiener viele Notwendigkeiten eines Arbeitsalltags im Parkhotel Schönbrunn vergessen lassen. Bei Bektas läuft nämlich auch ohne "Hallo Dienstmann" mit Hans Moser – er hat den Film x-mal gesehen – ständig das Kopfkino.

Der Aushilfslohndiener nach nur sieben Zimmern und zwei Dutzend Koffern erschöpft im Aufzug.
Foto: Heribert Corn

Während er gleich nach Dienstbeginn den Gehsteig kehren muss, zu Mittag an alle Zimmer klopft, die nicht rechtzeitig verlassen oder bezahlt worden sind, oder bei Dienstschluss noch auf die Post marschiert, um Gästen Vergessenes hinterherzuschicken, denkt er am liebsten an erlebte Geschichten, wie er sagt. Aber wiegt das all die Mühsal auf an einer Tätigkeit, bei der ein guter Page keine einzige Sekunde in die Luft schaut, wenn man die Arbeit so wie Bektas in Vollendung beherrscht und sie überall lauern sieht?

Alleskönner

Zum Glück gibt es ja immer noch das viele Trink- als Schmerzensgeld. Darf ich erzählen, wie hoch meines in vier Stunden und nach 12.000 vom Smartphone gezählten Schritten war? Die 18 Gäste aus Mexiko, Israel, Kärnten, den Niederlanden und Tirol, die ich in dieser Zeit auf sieben Zimmer begleitete, haben mich mit 4,50 Euro bedacht. Geizig, finden Sie? Ich denke, es war angemessen. Denn ich konnte ihnen nicht auf Anhieb sagen, wie die Verbindungstür zwischen ihren Suiten aufgeht, wo die dritte Garnitur Handtücher und das Beistellbett bleiben oder wie die Durchwahl für den Room-Service lautet. Wäre schon alles noch gekommen nach ein paar Tagen Übung? Mag sein. Aber Süleyman Bektas kann noch mehr.

Ein Page wie er hält in der einen Hand einen schweren Koffer, während er mit der anderen das Messing des Gepäckwagens poliert. Der erfahrene Lohndiener öffnet zugleich Taxitüren und Herzen, wenn er völlig Unbekannten die verborgensten Wünsche von den Augen abliest. Und er lässt einen 47-jährigen Kofferträger wieder wie einen 15-jährigen Ferialpraktikanten aussehen, wenn er vor Gästen seinen Humor auspackt. Der kommt immer ohne Schmähungen aus und bei zufriedenen Touristen genauso an wie bei verwöhnten Promis. Ich fürchte fast nach diesem Tag, Joe Cocker hat damals dem Falschen einen Drink ausgegeben. (RONDO Exklusiv, Sascha Aumüller, 3.11.2022)