Mit Katja Gasser hat der Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 eine umtriebige künstlerische Leiterin bekommen.

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Mit ORF-Literaturfrau Katja Gasser hat der Gastlandauftritt Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023 eine umtriebige künstlerische Leiterin bekommen, die mit ihrer Arbeit schon lange klarmacht, dass Literatur unentbehrlich und wichtig ist. Während der Lockdowns hat sie zudem erfundene und gefundene Dialoge mit ihrer Tochter aufgeschrieben. Daraus ist nun ein Buch geworden. Also Anlässe genug, um Gasser ein paar Fragen zu stellen, kurz bevor sie zur Frankfurter Buchmesse aufgebrochen ist.

STANDARD: Das Gastland-Motto für Leipzig lautet "meaoiswiamia". In Ihrer Podcast-Reihe fragen Sie Schriftsteller:innen im Vorfeld, was sie damit assoziieren. Wer ist damit gemeint?

Gasser: Wir, die wir in Österreich leben. Zugleich ist der Claim transnational gültig nach meinem Dafürhalten. Mir war es wichtig, dass sich Österreich im Kontext des Gastlandprojekts als ein Land zeigt, das aus der Geschichte nicht zuletzt Folgendes gelernt hat: dass nämlich jedes geschlossen und homogen gedachte "Wir" in die totale Katastrophe führt. "Mea ois wia mia" heißt ja übersetzt ins Hochdeutsche: "mehr als wir". Und das ist als Gegenkonzept zum nicht nur in Österreich nach wie vor tief wurzelnden "mia san mia" erdacht worden. Übrigens von einem der herausragendsten Autoren des Landes. Als ich das Projekt übernommen habe, war mir klar: Der Name des Gastlandprojekts ist von besonderer Relevanz. Und: Dieser Name sollte im Idealfall von einem Schriftsteller / einer Schriftstellerin, der/die in Österreich lebt, entwickelt werden. Und so haben wir vier sehr unterschiedliche österreichische Autor:innen gefragt, ob sie für das Gastlandprojekt darüber nachdenken würden, wie "wir" heißen könnten: Unter den erarbeiteten Vorschlägen war "meaoiswiamia", und ich wusste: Das ist es. Und je länger dieser Claim nun in der Welt ist, umso überzeugter bin ich, dass es die richtige Entscheidung war.

STANDARD: Beim Fußball plagen uns Unterlegenheitsgefühle in Richtung Deutschland. Macht die österreichischen Literaturlandschaft da wieder etwas wett?

Gasser: Ich weiß nicht, ob sie etwas wettmacht. Für Unterlegenheitsgefühle gibt es auf dem Feld des Literarischen in jedem Fall keinen Anlass: vielmehr, wenn schon, für Überheblichkeitsgefühle. Es ist nämlich so: Die österreichische Literatur ist gemessen an der Kleinheit unseres Landes ungeheuer reich. Das gilt auch für das Verlagswesen. Der wahre Reichtum unseres Landes liegt in seiner kulturellen, literarischen Kraft und Qualität – diese ist mehrsprachig, multikulturell und sozial divers geprägt. Dass etwa viele renommierte deutsche Verlage sehr viele Autor:innen aus Österreich im Programm haben, ist ja etwa nicht dem Umstand geschuldet, dass es in Deutschland zu wenig Schreibende gibt, sondern liegt daran, dass in Österreich einfach überdurchschnittlich viele herausragende Autoren und Autorinnen am Werk sind.

STANDARD: Mit einer solchen Programmauswahl, die Sie da zu verantworten haben, kann man eigentlich nur Fehler machen, weil ja immer jemand nicht vorkommt. Hat Ihnen das Kuratieren schon schlaflose Nächte beschert?

Gasser: Natürlich werden Fehler gemacht werden, natürlich wird es so sein, dass nicht alle glücklich sein werden, aber ich habe fast 20 Jahre TV-Erfahrung hinter mir: Man bringt mich also nicht so schnell aus der Fassung. (lacht) Zumal: Ich bemühe mich redlich darum, ein qualitätsvolles wie charakterstarkes Programm aufzustellen, das die hochkarätige Vielfalt des mehrsprachigen und mehrkulturellen Literaturlandes Österreich sichtbar macht. Ich beschäftige mich ja seit inzwischen 25 Jahren wirklich intensiv mit der österreichischen wie internationalen Literatur, das hilft mir in meiner Funktion als künstlerische Leiterin dieses Projekts schon sehr.

STANDARD: "Das Fette, an dem ich würge: Österreich", so hat es Handke einmal formuliert. Wie politisch muss ein Gastlandauftritt sein?

Gasser: So ein Gastlandauftritt ist so oder so politisch. Die Frage ist also nur, wie man dieses politische Momentum ansetzt. Nicht zuletzt deshalb ist mir sehr an unserem Claim gelegen, der auch eine politische Programmatik enthält: "meaoiswiamia" ist auch als Gegenkonzept zu einer politischen Haltung zu lesen, die Vielfalt zugunsten von Einfalt ablehnt. Vielfalt, sowohl sprachliche als auch kulturelle und religiöse, ist aber nicht zuletzt in Österreich ein gesellschaftliches Fakt. Sich dagegenzustellen, bedeutet, sich gegen die Realität zu stellen, Ideologie über die Wirklichkeit zu stülpen. Der slowenische Autor Drago Jančar hat einmal sinngemäß geschrieben, dass das Problem der Menschen nicht daher rührt, dass sie unterschiedlich sind, sondern daher, dass sie immer wieder aufs Neue anfangen, die Unterschiede zu betonen: Ich möchte im Rahmen unseres Gastlandprojekts die Unterschiede nicht betonen, aber sichtbar machen und zeigen, dass sehr viel Unterschiedliches egalitär nebeneinander bestehen kann – im Idealfall solidarisch miteinander verbunden.

STANDARD: Hat Literatur in Österreich genug Stellenwert? Wird genügend getan?

Gasser: Wenn man "Stellenwert" zunächst einmal ökonomisch deutet, dann müsste man jedenfalls sagen: Nein, der Stellenwert ist nicht hoch genug. Zugleich muss man bezogen auf Österreich festhalten: Getan wird, im Verhältnis zu anderen Ländern wie etwa auch Deutschland, durchaus sehr viel – Österreich hat etwa ein sehr gut ausgebautes Stipendienwesen für Autor:innen. Auch das Gastlandprojekt ist eine Initiative, die zeigt, dass der Literatur, dem Buch im Land durchaus hoher Stellenwert beigemessen wird. Aber natürlich ist immer alles auch ausbaufähig. Einiges gehört sicher auch radikal überdacht und reformiert – so etwa die Institution des Kunstsenats. Eine jede Gesellschaft, die demokratisch sein und das auch bleiben möchte, ist aber in jedem Fall gut darin beraten, gutes Geld in die Literatur, in die Kunst im Allgemeinen zu stecken. Wer diese Bereiche schwächt, befeuert einen Enthumanisierungs- und Entdemokratisierungsprozess, der für alle gefährlich ist.

STANDARD: Was kann Literatur in so krisenhaften Zeiten überhaupt ausrichten?

Gasser: Literatur muss gar nichts, auch nicht zu Krisenzeiten, kann aber alles. Dürfen tut sie so oder so alles. Ich halte das Beschwören von Kunst und Kultur in Krisenzeiten als eine Art Bollwerk gegen den allgemeinen Verfall für Kitsch. Literatur, die den Namen verdient, ist immer auch ein Ort, um es sehr einfach zu sagen, an dem über die Zeit, in der wir leben, nachgedacht wird. Ich glaube an die dringende Notwendigkeit dieses Nachdenkens: und zwar zu jeder Zeit und an jedem Ort – und eine Zeit, die dieses Nachdenken nicht ernst nimmt, eine Zeit, die glaubt, dass dieses Nachdenken irrelevant ist, weil es keinen sofort sichtbaren Nutzen bringt, ist von besonderer Dummheit. Gegen diese Dummheit gilt es zu jeder Zeit und an jedem Ort Widerstand zu leisten. In dieser Hinsicht: Mit meinem Zorn ist zu rechnen! (lacht)

Katja Gasser, "Von Erwachsenen hätte ich mir mehr erwartet. Erfundene und gefundene Dialoge".€ 22,50 / 160 Seiten.Leykam, 2022 gastland-leipzig23.at
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STANDARD: Man hat den Eindruck, dass Ihnen Ihr Beruf große Freude macht. Worauf sind Sie richtig stolz?

Gasser: Ja, das ist in der Tat so. Ich bin meistens mit großer Freude am Tun, mit aufrichtigem Interesse, getrieben von Erkenntnishunger. Was den Stolz angeht: Ihn halte ich, mit dem Schweizer Schriftsteller Thomas Meyer, für den dummen Bruder der Würde. Aber wenn stolz, dann am ehesten darauf, dass es mir gelungen ist, mich trotz aller Widrigkeiten nicht von der Literatur abbringen zu lassen – mein Vater hätte nicht geglaubt, dass ich als Germanistin je meine Miete allein werde bezahlen können. Er hat sich geirrt.

STANDARD: Wann wäre in Ihren Augen der Gastlandauftritt gelungen?

Gasser: Wir sind schon mitten im Gelingen! So empfinde ich es. Die, die noch unzufrieden mit uns sind, mögen mir diesen Optimismus verzeihen! Abgesehen davon, dass wir einen Namen haben, eine Homepage, auf diversen Social-Media-Kanälen aktiv sind: Wir haben ja mit unserem Programm längst begonnen – der Auftakt war im März 2022, während der Buchmesse, die nicht stattfand und doch stattfand; jetzt ist die Literaturhaustour voll im Gange – mit rund 40 Veranstaltungen in Deutschland und der Schweiz; der meaoiswiamia-Literaturpodcast ist in der Welt, das ORF-Kooperationsprojekt Archive des Schreibens entwickelt sich wunderbar usw. Man muss verstehen: Die paar Tage im April 23 während der Buchmesse werden nur ein Teil dieses Gastlandprojekts sein. Wir wollen mit diesem Projekt kein Strohfeuer machen, sondern damit möglichst Nachhaltiges initiieren.

STANDARD: Bei "Willkommen Österreich", wo Sie kürzlich Ihr Mutter-Tochter-Dialoge-Buch vorstellen durften, fiel das Wort "Rabenmutter". Wie lässt sich starkes berufliches Engagement mit Muttersein und Familie vereinbaren?

Gasser: Es ist eine Herausforderung und alles andere als leicht. Es kommt ständig etwas zu kurz. Wenn man nicht reich ist oder eine Familie hat, Eltern, die einem helfen können, kommt man ohne einen grundkämpferischen Charakter nicht durch: Den habe ich. Ein bequemes Leben geht anders, dafür bin ich aber sehr frei und habe gelernt, auf sämtliche Konventionen heiter zu pfeifen.

STANDARD: Soll ein Kind mehr lesen, als sich in den sozialen Medien herumzutreiben?

Gasser: Sowieso! Wer sich nur auf Soziale-Medien-Kanälen herumtreibt, verroht: und verblödet damit. Jetzt ist es zwar nicht so, dass Leser und Leserinnen die besseren Menschen wären – mir geht ja auch das Glorifizieren des Lesens auf die Nerven, und mich reizt es in diesen Kontexten immer wieder zu sagen: Lernen Sie Geschichte! –, aber das Lesen: Es markiert einen ganz anderen Seins-Modus, es konzentriert, macht still, wirft die Leserin / den Leser auf sich selbst zurück – das allein hat etwas Heilsames und birgt zumindest eine Chance für Neues, Verwandelndes, fürs Denken und Empfinden.

STANDARD: Virginia Woolf fordert für Frauen ein "Zimmer für sich allein". Kommen Sie im Moment noch in Ruhe zum Lesen? Falls ja, was liegt gerade ganz oben auf dem Stapel?

Gasser: Doch, ich brauche ja auch als künstlerische Leiterin dieses Projekts dringend regelmäßig Futter für Herz und Hirn! Ich habe mir übrigens nicht zuletzt deshalb auch den meaoiswiamia-Podcast erfunden: um dranzubleiben an der Literatur, am Schreiben unserer Tage und nicht ganz im Organisatorischen, im Management zu verblöden. Was gerade obenauf liegt bei mir, ist: Schreiben als Beruf von Péter Nádas, dem ich jährlich den Literaturnobelpreis wünsche – er ist einer der ganz großen Schriftsteller unserer Zeit und ist jüngst 80 Jahre alt geworden. Das Lesen seiner Texte durchlüftet alles Verkrustete in mir. (Mia Eidlhuber, 21.10.2022)